Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
mit der vorherigen Beschreibung zu kollidieren. Die besagte Nase kommt viel wuchtiger beim Leser an. Außerdem ist in der neuen Fassung mehr Tiptree-typischer Tonfall enthalten – das Mädchen wird nämlich in eiskalten biologischen Begriffen klassifiziert, als Vertreter einer »Art«.
Über ein erstaunlich hässliches Mädchen hatte Tiptree schon früher geschrieben (»Das ein- und ausgeschaltete Mädchen«), so wie viele ihrer Motive von ihr immer wieder in neuen Varianten bearbeitet werden; vielleicht finden wir im siebten Band einen klugen Essay darüber, welche Motive das alles sind und wie sie zusammenhängen. Die preisgekrönte Geschichte »Die Screwfly Solution« etwa, die auf deutsch auch schon als »Operation Goldfingerfliege«, »Schmeißfliegen« und unter anderen Titeln veröffentlicht wurde, schildert in Dokumenten, Briefen und Tagebucheinträgen, wie plötzlich überall auf der Welt die Frauenfeindlichkeit zur Epidemie wird und die Männer die weiblichen Exemplare ihrer eigenen Spezies abschlachten, sodass das Ende der Menschheit absehbar wird. Der Text wurde verschiedentlich als feministisches Statement verstanden, aber wer genau hinschaut und Tiptrees Hinweise verknüpft, der erkennt, dass es sich in Wahrheit um ein Experiment an den Experimentatoren handelt. Während irdische Wissenschaftler eine lästige Fliegenart zu bekämpfen versuchen, indem sie Anti-Pheromone einsetzen, die sexuelle Attraktivität in das genaue Gegenteil verkehren, tun Außerirdische dasselbe mit den Menschen, um die Überbevölkerung ins Gegenteil zu verkehren, den Homo sapiens loszuwerden und den Planeten für sich zu haben. Den ersten Alien-Grundstücksmakler hat die womöglich letzte Frau auf Erden schon gesichtet. Die Männer sind also völlig schuldlos und das Opfer einer Manipulation; daraus ein feministisches Statement zu stricken, bedarf schon einigen Aufwand an Einäugigkeit – oder die Interpretation, die Sichtung des Aliens für eine Einbildung ebenjener Frau zu halten (was von Tiptree nicht nahegelegt wird).
»Coda«, früher auf deutsch unter dem Titel »Sphärenklänge« erschienen, ist eine sehr wehmütige, getragene Geschichte, die wie eine Antwort auf oder eine weitergedachte Version von Arthur C. Clarkes Roman »Die letzte Generation« wirkt. Während sich die Menschheit auf eine höhere Daseinsstufe in den sogenannten »Strom« begibt (fast genau dasselbe wie der Clarke’sche »Overmind«) und dabei so ziemlich alles aufgibt, was menschlich an ihr war, reisen zwei zufällige Reisekameraden zum Ursprung des Stroms, Jakko, um sich endlich dem Strom anzuschließen, ehe der Strom den Kontakt zur Erde verliert, Peachthief, um eben nicht hineinzugehen und sich von der bereits im Strom befindlichen Familie zu verabschieden (nebenbei würde sie sich auch ganz gern von Jakko schwängern lassen). Natürlich landen beide am Ende, wenn auch nicht ganz freiwillig, dennoch im Strom. Eine bitter-süße Liebesgeschichte, eine Weltuntergangsgeschichte – und eine Tiptree-Geschichte, die ballardianischer gar nicht sein könnte.
In »Wer den Traum stiehlt« dreht Tiptree wieder einmal an den Gewohnheiten, die sich der Science-Fiction-Leser beim Lesen der immergleichen Ideen so aneignet, und erzählt konsequent aus der Sicht eines außerirdischen Volkes, das einem irdischen Imperium ausgeliefert ist, mit dem man nun wirklich nichts zu tun haben möchte. Die Aliens, aus deren Sicht erzählt wird, werden missbraucht, ausgenutzt und behandelt wie interstellarer Abfall, und der Begriff »Mensch« ist völlig gleichbedeutend mit »Scheusal« – einzig der Traum von einem Sternenreich von Ihresgleichen hält die Aliens am Leben. Tatsächlich gelingt es ihnen eines Tages, ein Raumschiff zu stehlen und sich ins All davonzumachen. Und sie gelangen sogar zu einem Planeten mit Wesen ihrer eigenen Art und glauben, im Paradies angelangt zu sein. Dann allerdings entdecken sie etwas, das ihr Denken in den Grundfesten erschüttert … Den kompletten Hintergrund mit einem von außerordentlich niederträchtigen Exemplaren der Art Homo sapiens bevölkerten Universum faltet Tiptree dabei, genau wie in »Mit zarten irren Händen«, im Hintergrund und eher nebenbei auf – nach Informationsgewittern, die den Leser erstmal über alles aufklären, sucht man vergeblich.
»Ein Quell unschuldiger Freude« ist eine Binnenerzählung so wie die drei Geschichten, die »Quintana Roo« ausmachen, und von ganz ähnlicher Stimmung. Die dahinterstehende
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