Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
Betriebsamkeit vieler angesichts einer alles transformierenden »Katastrophe« und dem Sich-Einlassen weniger auf die neuen unbekannten Möglichkeiten einer anderen Welt. Im Folgenden ein Zitat aus dem Roman: »Diese immer stärker werdende Isolierung und Ichbezogenheit, die auch bei den anderen festzustellen war, ließ Keran an das biologische Zurückziehen aller Säugetiere denken, die vor einer großen Metamorphose standen. Manchmal überlegte er, welche Phase er wohl gerade durchmachte, er war überzeugt, dass sein Zurückziehen eine sorgfältige Vorbereitung für eine ganz neue Umwelt und eine neue Logik war, wo alte Denkkategorien nur ein Hindernis sein würden.«
Die Metamorphose ist nicht wissenschaftlich fundiert dargestellt, zugegeben, aber dennoch entsteht bei Ballard ein Science-Fiction-Effekt, indem die Konfrontation mit einer Umwelttransformation als individuelle und gesellschaftliche Herausforderung geschildert wird, die psychische Veränderungen notwendig macht und zumindest andeutet, dass das Denken sich ändern muss, um die Entwicklung überhaupt verstehen zu können. Ballard skizziert keine Kausalitäten, die zu dieser Transformation führen – anders als zum Beispiel Greg Bear in »Blutmusik« oder Greg Egan in »Diaspora« –, aber er gestaltet überzeugend das Spektrum psychischer Reaktionen, das von Ignoranz bis zur Annahme reicht. Insofern ist Ballards Roman eher eine Kulturkritik als ein wissenschaftlich akkurates Szenario, was seinen literarischen und seinen »SF-Wert« jedoch keineswegs schmälert.
Dem Roman »Die letzte Generation« (»Childhood’s End«) von Arthur C. Clarke wiederum wirft Lem vor, dass er als »Märchen« enden würde; man könne nicht realistisch anfangen und später dann den Leser mit gottgleichen Wesen abfertigen. Wenn ihre empirischen Mittel eben nicht ausreichen würden, beriefen sich viele Autoren auf »große Zeichen« wie Supercomputer und Ähnliches, die Probleme der Handlung gleichsam von oben lösen sollen. Das Buch handelt von einer Alien-Invasion auf der Erde, die im Auftrag eines sich bedeckt haltenden kosmischen »Übergeistes« die geistige Mutation der jüngeren Kinder einleitet, denen die Entkörperlichung und die Aufnahme in eben diese Geistform bevorsteht. Zwar meinte Lem später in seinem Interview-Buch »Lem über Lem«, dass Clarke doch einige gute Einfälle hervorgebracht habe, an dieser Stelle gibt er sich jedoch unversöhnlich: In »Die letzte Generation« werde »die empirische Struktur der SF gebrochen und durch keine andere Struktur ersetzt, denn diese ›theologisch-metaphysischen Anleihen‹ retten weder die empirische Ordnung, noch setzen sie eine eigene, andere Ordnung« (Phantastik und Futurologie II). Zugegeben: Clarke inszeniert ein schwierig zu meisterndes Transzendenz-Spiel, das man in manchen Einzelheiten sicherlich nicht akzeptieren muss. So ist die Idee einer außerirdisch durchgesetzten »Erziehung«, die der Menschheit einige Entscheidungen aus der Hand nimmt und Lösungen für irdische Probleme findet, sicherlich eine weder realistische noch überhaupt wünschenswerte Annahme, Clarke setzt sie aber eindringlich und spannend um. Auch entindividualisiert er das Mutanten-Thema und macht dieses zu einem globalen Kollektivprojekt. Für die einen wird es zu einem exorbitanten geistigen Abenteuer, für die anderen offenbaren sich Schattenseiten: Mit der Ankunft der Aliens tritt die Masse der Menschen in ein unfreiwillig erreichtes utopisches Zeitalter, das sie ihre Entdeckerfreude und Schaffenskraft vernachlässigen lässt, während die ausgewählten Kinder sich in Enklaven wie die Insel Neu-Athen zurückziehen und auf den Quantensprung ihrer Entwicklung vorbereiten. In einer visionären Übersteigerung zeigt Clarke die Möglichkeit einer großen Alternative zum Bestehenden, die eben nicht durch eine göttliche Verfügung, sondern durch eine Konzentration von mentalen Potenzialen auf verschiedenen Ebenen herbeigeführt wird. Sicher, der »Übergeist« ist kaum fassbar, aber er ist das Ergebnis eines fortgeschrittenen Zivilisationsprozesses und nicht allmächtig. Man kann seinen Wirkungsbereich nur »markieren«, nie detailliert darstellen. Mit seiner grandiosen Vision reflektiert Clarke auch die Angst vor der Todesbedrohung: Der Erzähler als Zeuge der Ereignisse erlebt noch, dass die menschliche Kultur vor ihrer Zerstörung in einem größeren kosmischen Sinn-Zusammenhang aufgehoben wird – etwas, das sich wohl jeder für sein
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