Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
Türkei und die Sowjetunion. Hernach wirkte er bis 1962 als Stationsarzt an der Münchner Universitäts-Nervenklinik; bis 1985 verfasste er psychiatrische Gutachten. Im Jahr 2009 musste er sich eines Tumors wegen einer Hirnoperation unterziehen, in deren Folge er erblindete.
Augustin ist fünfundachtzig Jahre alt. »Robinsons blaues Haus« soll, wie er selbst sagt, sein letzter Roman sein, sein abschließender Reisebericht, wird man denken dürfen, die retrospektive Fahrt in die farbenprächtigen Weltinnenräume eines Mannes, dem sich die äußere Welt verdunkelt hat.
Der Ich-Erzähler ist Bankangestellter, aber alles andere als ein fixierter Schalterbeamter. Er kommt herum: nach Luxemburg (sowieso), nach London und New York, auch auf die Südseeinseln. Warum? Er ist, wie es scheint, auf der Flucht. Er hatte einen Vater, dessen Beruf offenbar gefährlich war. Es geht, wie sich dem Leser nach und nach erschließt, um Geld, schlimmer noch: um viel Geld. Um krummes Geld, ja, und um Summen, die sich gewaschen haben oder, auch möglich, vom Vater gewaschen worden sind.
Der Ich-Erzähler macht eine Ausbildung bei der Bank und tritt in die Fußstapfen seines Vaters, der ihm einen mysteriösen Code nebst reichhaltig Kapital vermacht hat. Auf das väterlich vermachte Geld erheben aber auch andere Anspruch. Ist also die Angst vor Verfolgern berechtigt? Ist das Versteckspiel notwendig, um zu überleben?
Oder naht die Erlösung per Knopfdruck? »Es gibt ja noch den Knopf an der Tastatur, den ich drücken kann oder nicht drücken kann. Und wenn ich ihn drücke, wird alles gelöscht sein. Alle Verbrechen und alle Vergehen, alle Bankkonten und Depots, sämtliche Anbindungen, Vernetzungen und Verquickungen mit all dem Geld auf dieser Welt. Mit allen Kredit-, Pfand- und Verschreibungsinstituten, allen Anleihen und Gegenanleihen und den Investitionen in die Staaten Sambesi und Kiribati … Nicht zu reden von Goldbeständen … Und schon gar nicht von Lombard- oder Finsbury-Optionen, die sowieso nur fiktiv bestehen, und das Ganze auf Knopfdruck: ›Erase‹, Löschen.« Am Ende begegnet auch dieser Robinson seinem Freitag leibhaftig, und dieser Freitag ist niemand anderes als sein »höchst privater Tod«.
Augustin hat großartige Romane geschrieben. An dieser Stelle möchte ich nur »Eastend« erwähnen, den ich für ein Jahrhundertbuch halte, ebenso brillant wie gläsern im Stil, menschenkundig, leidenschaftlich, voller Entdeckerfreude und, was das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fantasie angeht, ausbalanciert wie weniges in deutscher Sprache. »Robinsons blaues Haus« scheint mir nicht mehr ganz so unverrückbar im Leben zu stehen wie dieses »Eastend« damals, wirkt in seinen Spielzügen losgelöst, fast transzendent. Natürlich geht es hier um den Tod, um die zusehends schwindende Distanz zwischen Diesseits und Jenseits, und darum, dass irgendwann alle Besenkammern unserer Luftschlösser und Wolkenkuckucksheime nicht mehr hinreichen, um sich vor dem Unabwendbaren zu verbergen. Kein fröhliches Buch, aber eines, mit dem ein großer Autor uns Gravierendes zu lesen leicht macht.
Hartmut Kasper
CHRIS BECKETT
MESSIAS-MASCHINE (THE HOLY MACHINE)
Roman · Aus dem Englischen von Jakob Schmidt · Knaur Verlag, München 2012 · 332 Seiten · € 9,99
Kürzlich erzählte mir ein Freund, in Deutschland gäbe es an Autobahnraststätten Münzautomaten mit »Traveller Pussies«: künstlichen Vaginas, offenbar für den dringenden »Bedarf« der Fernfahrer erschaffen und um wohlfeile zwei Euro erhältlich. Jämmerlich, gewiss, doch es führt uns geradewegs in die zukünftige Welt dieses erstaunlich guten Buches … In Illyria – einem fiktiven adriatischen Gebiet, in das sich im 21. Jahrhundert Wissenschaftler vor der zunehmenden Fortschrittsfeindlichkeit zurückgezogen haben – lebt George Simling als Übersetzer in einer vielsprachigen Welt: aufgeteilt in letzte Inseln von Rationalität und Wirtschaft auf der einen und große, vorindustriell anmutende Gebiete auf der anderen Seite, in denen die Religion den Ton angibt. George wächst privilegiert auf und scheint nur zwei Prioritäten im Leben zu haben: seinen Job gut zu machen, und seine Mutter alle paar Stunden umzudrehen, damit sie nicht wundliegt. Sie verbringt die meiste Zeit ihres Lebens nämlich, wie so viele andere, freiwillig im SenSpace – einer über Datenanzüge erfahrbaren virtuellen Welt, in der die vom realen Leben Enttäuschten ein
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