Das sechste Herz
plötzlich aus der Versenkung auf.« Jo nahm einen großen Schluck. »Bei ›Nummer sechs‹ kann er keinesfalls der Täter gewesen sein, da gebe ich dir Brief und Siegel drauf.«
»Wer war es dann? Was, wenn der wahre Täter Frank Studer die anderen Taten in die Schuhe schieben wollte? Oder Studer hatte das Herz schon letzte Woche entnommen, den Behälter irgendwo zwischengelagert und jemanden beauftragt, ihn an dieser Kita abzustellen?«
»Nette Idee Lara, aber warum hätte er das tun sollen? Und wo ist die dazugehörige Leiche? In Studers Haus wohl nicht. Und wenn es der Komplize war, warum hat er Studer vorher ermorden müssen?«
»Vielleicht war der nicht mehr gewillt, weiter mitzumachen?«
»Sonst bin doch immer ich derjenige, der die wildesten Theorien ausbrütet.« Jo stand noch einmal auf und kam mit einem Päckchen Salzstangen zurück. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die ersten fünf Opfer von Frank Studer umgebracht wurden und er auch die Herzen deponiert hat. Aber unsere Theorie von dem Komplizen erscheint mir immer wahrscheinlicher. Das würde auch erklären, warum der Fundort von Nummer sechs nicht so richtig zu den vorhergehenden passt. Vielleicht musste Studers Expartner schnell handeln, und ihm fehlte die Zeit, einen anderen Standort für den Behälter auszusuchen.«
»Warum sollte es der Komplize denn plötzlich so eilig gehabt haben?«
»Gute Frage. Keine Ahnung. Wenn wir schon alles wüssten, würden wir auch den Mittäter kennen …« Jo schob sich ein paar Salzstangen in den Mund. Das krachende Geräusch, als er sie zerbiss, schien in Laras Küche überlaut widerzuhallen.
»Vor einem Kindergarten!« Lara nahm sich auch ein paar von den Stangen und kaute darauf herum. Sie schmeckten nach nichts.
»Eigentlich ist es gar nicht so dumm gedacht. Da fällt es nicht auf, wenn jemand erscheint und Thermobehälter hinstellt. Und am Nachmittag kommen da ständig Autos vorgefahren, halten und verschwinden wieder, weil heutzutage jeder seine Kinder mit dem Auto abholt. Du kannst Gift darauf nehmen, dass niemand von den Anwohnern etwas Ungewöhnliches beobachtet hat.«
»Das klingt logisch.« Lara schluckte, spülte mit etwas Wein nach und sah dann zur Uhr. »Wollen wir Mark noch einmal anrufen? Vorhin war er nicht zu erreichen, aber inzwischen müsste er doch längst wieder zu Hause sein. Ich wüsste gern, was er zu der Sache sagt.«
»Können wir machen.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn du ihn mit deinem Handy anrufst?« Lara fing Jos ungläubigen Blick auf und setzte hinzu: »Anna scheint irgendwie sauer auf mich zu sein. Dabei habe ich ihr keinen Grund dazu gegeben. Aber wenn sie deine Nummer sieht, ist es vielleicht etwas anderes.«
»Wie du willst.« Jo schien nicht überzeugt zu sein, griff aber zu seinem Mobiltelefon und wählte. Lara beobachtete ihn, doch während sie noch damit beschäftigt war, die Emotionen in seinem Gesicht zu deuten, legte er schon auf und sah ihr in die Augen. »Zu Hause ist er nicht. Direkt hat Anna es nicht gesagt, aber anscheinend gab es Streit. Ich versuch’s noch mal auf seinem Handy.« Noch einmal tippte er Marks Namen ein, wählte, lauschte und sprach schließlich auf die Mailbox, dass Mark sich bei ihm oder Lara melden solle, wenn er den Anruf abhörte.
»Das ist merkwürdig.« Lara fühlte ein ängstliches Brennen hinter dem Brustbein. »Seine Sprechstundenschwester hat heute Nachmittag gesagt, er wäre gleich nach dem letzten Patienten verschwunden und hätte es ziemlich eilig gehabt. Sie war der Meinung, dass er nach Hause wollte, aber das hat sich ja als Fehlannahme herausgestellt. Wo kann er stecken?«
»Wahrscheinlich ist er noch einen trinken gegangen. Männer machen das manchmal so, wenn es zu Hause Streit gegeben hat.« Jo griff zur Flasche und goss sich selbst nach, nachdem Lara die Hand auf ihr Glas gelegt hatte. Sie vergaß immer wieder, dass Jo selbst einmal verheiratet gewesen war und seine Frau ihn wegen eines anderen verlassen hatte. Das Ganze war Jahre her, aber ab und an blitzten noch einmal Erinnerungssplitter an seine Ehe hervor.
39
Mark Grünthal hob die Tasse und setzte sie gleich wieder ab. Der Tee wirbelte langsam im Kreis herum und duftete aromatisch.
»Keinen Appetit?« Agnes French musterte ihn besorgt. »Du siehst müde aus.«
»Es ist nichts.« Mark hatte keine Lust, mit der Kollegin über seine Probleme mit Anna zu sprechen, geschweige denn darüber, dass er schon zwei Nächte nicht zu Hause verbracht hatte.
Weitere Kostenlose Bücher