Das sechste Herz
Agnes’ Augenbrauen rutschten in Sekundenbruchteilen nach oben und gleich wieder herunter.
»Das hatte ich vorhin vergessen. Sein Vater hat es erwähnt, weiß aber nicht, bei wem sein Sohn damals gewesen ist. Um solche Dinge hat sich Magnus’ Mutter gekümmert. Und die lebt leider nicht mehr.«
»Also wird es schwierig, das herauszufinden.« Obwohl ihre Tasse noch nicht ganz leer war, hatte Agnes sich erhoben und begann abzuräumen. »Wenn nicht gar unmöglich. Aber wozu benötigst du diese Information überhaupt?«
»Eigentlich brauche ich sie nicht, du hast recht.« Mark konnte Agnes ja schlecht sagen, dass all sein Wissen in dieser Sache an Lara weiterfloss, denn dann hätte sich die Kollegin mit Sicherheit noch schuldiger gefühlt.
»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du der Stimme der Vernunft trotzdem nicht folgen wirst?« Sie kam zum Tisch zurück, blieb neben ihm stehen und drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger.
Weil ich gerade sehr viel freie Zeit habe. Weil ich nicht nach Hause fahren möchte. Weil ich mich ablenken muss. Weil ich Lara nicht im Stich lassen will. Und weil ich auch selbst wissen will, wer der Täter ist. So viele Gründe. Mark schwieg.
»Du kannst mir ja am nächsten Dienstag alle Neuigkeiten erzählen.« Agnes sah ihn an. Das Lächeln war zurückgekommen.
»Gern. Ich muss jetzt los.« Er erhob sich.
40
Der vermeintliche Täter, Frank S., bewohnte zeitweilig das Haus seines Großvaters Friedrich S., das er nach dessen Tod geerbt hatte. Als die Kriminalpolizei Haus und Grundstück am Sonnabend, dem 10. Dezember durchsuchte, fand sie außer der Leiche von Frank S. auch Überreste mehrerer Opfer des sogenannten Schlachters und diverse Geräte mit Blutspuren in der Garage.
Laut Auskunft der Polizei haben die Untersuchungen der DNA zweifelsfrei ergeben, dass die Spuren von den Opfern stammen, denen die Herzen entnommen worden waren.
Der Pressesprecher der Kriminalpolizei teilte weiterhin mit, dass derzeit »alle Beweise dafür sprechen, dass Frank S. in allen fünf Fällen der Täter« war.
Auch die zerkleinerten Überreste der bisher vermissten fünf Leichen wurden in der Zwischenzeit auf dem Grundstück entdeckt.
Unterdessen hat es jedoch neue Entwicklungen in dem Fall gegeben, die eine alleinige Täterschaft von S. fragwürdig erscheinen lassen.
Mehr dazu lesen Sie auf Seite 4: Das sechste Herz .
Lara löste den Blick vom Bildschirm und schaute auf den Kalender, der hinter dem Schreibtisch an der Wand hing. Nächste Woche war Heiligabend, und sie hatte noch keinen Plan, was sie tun sollte. Wahrscheinlich erwarteten ihre Eltern, dass sie wie jedes Jahr zu ihnen kam. Lara war ihr einziges Kind, und ihrer Meinung nach gehörte es sich, dass man das Weihnachtsfest zusammen verbrachte. Sie dachte an Jo und daran, dass sie keine Ahnung hatte, was er zum Fest vorhatte. Hatte er ebenfalls vor, zu seinen Eltern zu fahren? Wenn sie sich richtig erinnerte, lebten beide noch. Oder erwartete er gar, dass sie mit ihm feierte?
Eigentlich wusste sie, außer dass Jo verheiratet gewesen war und seine Frau ihn wegen eines anderen verlassen hatte, kaum etwas von ihm. Was unternahm er in seiner Freizeit, wenn er nicht mit ihr zusammen oder auf »Fotosafari« war?
»Vielleicht solltest du mal mit ihm reden«, murmelte sie vor sich hin und malte dabei Kringel auf ihre Schreibtischunterlage.
Vor dem Arbeitszimmerfenster taumelten weiße Flöckchen herum wie beschwipste Miniballerinas. Kälte und Schnee – das ideale Wetter, um in Weihnachtsstimmung zu kommen. Warum nur wollte sich dann bei ihr kein dementsprechendes Feeling einstellen?
Geschenke hatte sie auch noch nicht. Es war jedes Jahr das Gleiche. Lara Birkenfeld stürzte am 23. oder gar erst am 24. Dezember los und kaufte Dinge, von denen sie hoffte, dass sie den anderen gefallen würden. Sollte sie Jo etwas schenken? Und wenn ja, was?
Ihre Finger machten sich ohne bewusstes Zutun selbstständig und hämmerten über die Tasten. Manche Anbieter im Netz boten Shoppinglisten für Unentschlossene mit 24-Stunden-Lieferservice an. Nur kurz flackerte das schlechte Gewissen auf, weil sie die Arbeit an dem Artikel für morgen schon wieder unterbrach, aber die konnte sie ja nachher fortsetzen. Für ihre Eltern brauchte sie auf jeden Fall etwas, und je länger sie das Ganze hinausschob, umso schwieriger würde es werden, etwas Schönes zu finden.
Eine Stunde später hatte Lara einen elektrischen Fußwärmer »mit kuscheligem
Weitere Kostenlose Bücher