Das sechste Herz
des Renaults eine ältere Frau saß, die wie einer dieser Wackeldackel den Kopf schüttelte. Seinen ausgestreckten Mittelfinger bemerkte sie nicht. Die Ampel schaltete auf Grün, und er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Gequält heulte der Motor auf, und trotzdem kam die Kiste nicht so voran, wie er es sich wünschte. Der Fiat Ducato war ein älteres Modell, abgenutzt und klapprig; nichts, was er sich privat angeschafft hätte, aber es nützte nichts. Als Azubi konnte man sich Dienstfahrzeuge nicht aussuchen. Das Positive an der Klapperkiste war, dass er sich nicht um den Benzinverbrauch oder etwaige Reparaturen kümmern musste. Da er schon mehrere Kratzer und Beulen verursacht hatte – wie, daran konnte er sich selbst nicht mehr so recht erinnern –, war das ein besonders wichtiges Kriterium. Und ewig würde er den Job schließlich nicht machen.
Cook for Kids – wie sich der Lieferservice für Schulen und Kindergärten nannte – hätte auch keine anderen Wagen gehabt, selbst wenn Martin es verlangt hätte. Wieder bremste er abrupt, und das Spiel von vorhin wiederholte sich. Wahrscheinlich sah Frau Wackeldackel durch die hohe Rückfront des Transporters die Ampel nicht rechtzeitig. Aber dann musste sie eben vorsichtig sein und den Sicherheitsabstand einhalten.
Martin drehte das Radio lauter und sang den Refrain des Songs mit. Amy Winehouse. Coole Alte. Leider hatte sie sich totgesoffen. Noch eine Fuhre, dann war er fertig für heute. Er ordnete sich auf die Linksabbiegerspur ein und bemerkte, dass die Oma in dem Renault jetzt neben ihm stand. Sie sah mit verkniffenem Gesichtsausdruck herüber und schüttelte noch einmal mahnend den Kopf. Sein Winken erwiderte sie nicht. Auch egal. Mach’s gut, Muttchen! Vorsichtig bog sie ab, und weg war Frau Wackeldackel.
Amy Winehouse war fertig. Die Gute würde nie wieder in eine » Rehab « kommen. Martin trat aufs Gas.
Vor dem Eingang des Kindergartens Spatzennest stand ein VW Tiguan. Er unterdrückte einen Fluch. Manche von den Eltern checkten es einfach nicht, dass vor der Kita ein Parkverbotsschild stand. Sie wollten doch alle »bloß schnell« ihre Kids abholen. Dass sie dabei die Zufahrt für die Lieferanten verstellten – wen juckte es.
»Ich habe auch gar nicht geparkt, nur gehalten. Und das ist schließlich erlaubt, oder?«, hatte eine Mutter, die nicht mal in der Lage gewesen war, ihren dicken SUV gerade an den Bordstein zu stellen, neulich zu ihm gesagt.
Er parkte seinen Lieferwagen so dicht hinter den Tiguan, dass sich die Stoßstangen fast berührten. Ein kleines bisschen Erziehung musste erlaubt sein. Außerdem hatte die Tussi – und es waren immer Frauen, die hier parkten – vorn noch genügend Platz. Martin stieg aus und sah nach oben. Am Himmel über Leipzig hatten sich dunkle Wolken zusammengeballt. Ihre schneeschwangeren Bäuche schienen die Spitzen der Dächer fast zu streifen. Obwohl es noch nicht einmal drei war, konnte man die herannahende Dunkelheit förmlich schon greifen. Die Pforte der Kita war mit Tannenzweigen und kleinen roten Plastikweihnachtsmännern verziert, auch neben dem Weg, der nach drinnen führte, steckte allerlei weihnachtliches Dekozeugs.
Kinderlachen ertönte, dann kam ein kleines Mädchen angerannt. Mütze, Schal, Handschuhe, Anorak, alles war rosa. Sogar die Stiefel. Ihre Mutter folgte. Sie trug Braun, die Cordhosen steckten in Ugg-Boots. Das Kind bremste kurz vor dem Tor und wartete, von einem Fuß auf den anderen hüpfend, dass die Mutter herankam und ihr öffnete. Die Pforte zur Kita war oben mit einem Sicherheitsriegel versperrt, damit keines der Kinder aus Versehen abhauen konnte oder auf die Straße rannte, wenn sie alle im Garten spielten.
Die Mutter des Mädchens in Rosa war die Fahrerin des Tiguans. Wie konnte es auch anders sein. Ohne einen Funken Schuldbewusstsein im hübschen Gesicht hatte sie die Autotür geöffnet und half nun ihrer Tochter, sich anzuschnallen. Den Fahrer des Kleintransporters, der nur wenige Meter hinter ihr mit in die Seite gestützten Armen auf dem Gehsteig stand, schien sie gar nicht wahrzunehmen.
Martin dachte noch über eine passende Bemerkung nach, als sie ihre Ugg-Boots auch schon ins Auto schwang, den Motor anließ, und, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, davonfuhr. Er sah ihr nach und schüttelte dabei in der Hoffnung, sie möge es im Rückspiegel sehen, mahnend den Kopf. Jetzt machte er den Wackeldackel. Das nächste Mal würde er vor der Unbelehrbaren parken, dann
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