Das sechste Herz
Einlieferung in Obersprung. Ich frage mich die ganze Zeit, wo Mark diese Akte herbekommen hat. Laut Frau Doktor French war allein dieser Doktor Solomon Magnus Geroldsens Therapeut, und weder sie noch Mark hatten etwas mit dem Patienten zu tun.« Er tippte wieder auf den aufgeschlagenen Ordner. »Das geht ja auch aus den Aufzeichnungen hier drin hervor.«
»Jemand muss sie Mark gegeben haben. Oder er hat sie heimlich kopiert, weil ihn der Fall nicht losgelassen hat.« Oder weil er mir helfen wollte. Lara schloss kurz die Augen und sah Marks kantiges Gesicht vor sich. In ihrer Brust glühte der Schmerz stärker, und sie öffnete die Lider schnell wieder. Das Hotelzimmer war modern eingerichtet. Direkt in die Wand über dem weißen Schreibtisch waren nebeneinander zwei Flachbildschirme eingelassen, einer fürs Fernsehen, der zweite fürs Internet. Gleich nachdem sie das Zimmer betreten hatten, hatte Jo sich mit einem Ausruf des Entzückens auf die Fernbedienungen gestürzt und begonnen, damit herumzuspielen. Lara schob ihr Handy zur Seite. Hoffentlich kamen heute keine weiteren Hiobsbotschaften herein.
Nach dem Anruf des Kripobeamten war sie so perplex gewesen, dass sie mehrere Minuten gebraucht hatte, um sich zu besinnen. Der Mann mit der bärbeißigen Stimme hatte ihr erklärt, Magnus Geroldsens Vater sei in seiner neu bezogenen Wohnung tot aufgefunden worden und es handele sich eindeutig um ein Gewaltverbrechen. Mehr könne er dazu nicht sagen. Weil man direkt neben der Leiche ihre Visitenkarte gefunden hatte, rufe er an, um herauszufinden, ob sie etwas wisse und wann sie den Mann zuletzt gesehen habe. Ihren Beteuerungen, dass sie Wulf Geroldsen noch nie im Leben getroffen habe und das Kärtchen nur über die Leiterin des Obdachlosenheims in seine Hände gelangt sein könne, schien er wenig Glauben zu schenken. Wie lange der Mann schon tot war, wollte oder konnte er ihr nicht sagen. Mit dem Hinweis, Lara solle sich für Nachfragen bereithalten, hatte er das Gespräch beendet.
Im Anschluss hatte sie eine halbe Stunde lang mit Jo im Auto herumdiskutiert, wer Geroldsens Vater umgebracht haben könnte und ob das etwas mit ihrem Fall zu tun haben könnte. Da ihnen jedoch zu viele Informationen fehlten, waren sie auf kein eindeutiges Ergebnis gekommen. Schließlich hatte Jo vorgeschlagen, heute nicht nach Leipzig zurückzufahren, sondern sich ein Hotelzimmer in Berlin zu nehmen, um morgen vor Ort zu sein, falls sie in den Akten aus Marks Praxis etwas fanden, das weitere Recherchen in der Hauptstadt erforderte. Ihr Argument, sie sei auf eine Übernachtung nicht eingerichtet, wurde mit der Entgegnung »Am Hauptbahnhof gibt es auch an den Wochenenden alles zu kaufen« beiseitegewischt. Lara schielte zu Jo hinüber, der sich schon wieder in seine Akte vertieft hatte, und wandte sich erneut der ihrigen zu.
Eine Stunde später lehnte sie sich mit einem Seufzen zurück, streckte die Arme über den Kopf und räkelte sich. »Mark hat während des Prozesses unzählige Notizen über die Aussagen der vor Gericht Befragten an den Rand gekritzelt. Kripobeamte und Rechtsmediziner sind für unsere Belange wohl unwichtig, also habe ich mich auf die Zeugen konzentriert, welche die Familie in irgendeiner Form kannten. Für uns kommen die beiden Au-pair-Mädchen, eine Kindergärtnerin und drei ehemalige Lehrer von Magnus Geroldsen infrage. Eigentlich waren es sogar vier Au-pair-Mädchen, aber nur die zwei Französinnen haben im Prozess ausgesagt. Die anderen beiden waren aus Australien und den USA – bisschen weit weg, um sie für eine Aussage vor Gericht zurück nach Deutschland zu holen.«
» Vier ? Ganz schöner Verschleiß, oder?«
»Die bleiben ja meist nur ein paar Monate, maximal ein Jahr, glaube ich. Allerdings werden uns auch die zwei, die damals eine Aussage gemacht haben, auf die Schnelle nichts nützen, weil sie höchstwahrscheinlich seit mindestens zehn Jahren wieder in ihren Heimatländern leben. Interessanter könnten da die Lehrer sein. Die Kindergärtnerin lassen wir fürs Erste außen vor, Magnus war damals noch zu klein, und diese ominöse Therapie soll ja erst später stattgefunden haben.«
»Die Lehrer also. Gibt es Namen von ihnen?«
»Ein Lehrer, zwei Lehrerinnen.« Lara deutete auf die drei Zettel, die seitlich aus der Akte herausragten. »Da drin stehen ihre Namen, Adressen und sogar der jeweilige Wortlaut der Aussage. Mark hat Kopien der Originalmitschriften von den Vernehmungen und ihren Aussagen vor
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