Das sechste Herz
Nachteile fast auf. Schließlich war es ihre freie Entscheidung gewesen. Lara zog einen Mundwinkel hoch und ging in die Küche, um sich ein Glas Saft zu holen. Manchmal vermisste sie die Kollegen in der Redaktion.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Grübeleien.
»Hi, meine Liebe!« Frank Schweizer hatte eine angenehme Stimme. Lara kannte ihn schon seit vielen Jahren. Der Kollege arbeitete bei der Tagespost, einer Wochenzeitung, und war im letzten Jahr nach Berlin gewechselt. Früher hatten sie sich manchmal bei Gerichtsprozessen getroffen, jetzt schanzte er ihr ab und zu Aufträge zu, unter anderem für den Leipziger Ableger der Zeitung.
»Ich hätte was für dich. Hast du morgen Abend Zeit?« Lara lächelte. Das klang wie die Anfrage zu einer Verabredung. Sie war sich nach all den Jahren immer noch nicht sicher, ob Franks Interesse rein beruflicher Natur war. Aber wahrscheinlich ahnte der Kollege längst, dass er nicht ihr Typ war.
»In der Runden Ecke wird morgen eine Sonderausstellung eröffnet. Du hast bestimmt davon gehört.«
»Habe ich.« Runde Ecke nannten die Leipziger das Gebäude an der Kurve Dittrichring/Goerdelerring, das zu DDR -Zeiten Sitz der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit gewesen war. Seit August 1990 befand sich hier eine Gedenkstätte mit der ständigen Ausstellung »Stasi – Macht und Banalität«.
»Es geht in der Ausstellung um den demokratischen Aufbruch bis zur Wiedervereinigung. ›Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution‹. Wann soll ich denn dort aufkreuzen?« Lara zückte ihr Notizbuch.
»Die offizielle Eröffnung ist um 19 Uhr. Es wäre aber gut, wenn du schon eine Stunde eher da sein könntest. Ich hätte für 18:15 und 18:30 Uhr zwei mögliche Interviewtermine.« Frank nannte ihr die Namen und erklärte, worum es ging, und Lara notierte sich die Details.
»Danke dir! Zeilenhonorar wie gehabt. Den Rest besprichst du mit Jens. Wir sollten demnächst mal wieder essen gehen, wenn ich in Leipzig bin.« Er legte auf. Lara seufzte und sah auf die knorrigen Äste des Kirschbaums vor ihrem Fenster hinaus. So viel zur freien Zeiteinteilung. Aber sie konnte es sich nicht leisten, Aufträge abzulehnen, schon gar nicht, wenn sie von Frank kamen. Nach ihrem Ausscheiden bei der Tagespresse hatte Frank sie dem Leipziger Chefredakteur Jens Hohnstein wärmstens empfohlen, ihr zudem in den letzten Monaten mehrfach geholfen, und sie würde ihn auch weiterhin brauchen. Lara griff nach dem Saftglas und stellte es wieder ab, weil das Telefon erneut klingelte. »Hast du noch was vergessen?«
»Wen meinst du? Hier ist Jo.« Jo Selbig war freier Fotograf, unter anderem für Laras ehemalige Zeitung. Und seit einigen Monaten hatten sie wohl auch so etwas wie eine »Affäre«, obwohl Lara sich nach wie vor nicht sicher war, ob das auf Dauer gut gehen würde.
»Oh.« Sie grinste kurz. »Ich habe gerade mit Frank Schweizer telefoniert. Er hat einen Auftrag für mich, morgen Abend. Ich dachte, er ruft noch einmal an, weil er mir noch etwas dazu sagen will.« Sie fand, dass ihre Stimme ein bisschen atemlos klang, was ihr einen Hauch von Schuldbewusstsein verlieh. Dabei gab es dazu gar keinen Anlass.
» Morgen Abend?« Sie konnte die Enttäuschung hören. »Schade. Ich wollte dich nämlich just für morgen einladen. Am Neumarkt hat ein französisches Restaurant aufgemacht, das sehr gut sein soll.«
Noch eine Einladung zum Essen. »Wie wäre es denn mit über morgen?«
»Donnerstag?« Jo schien wenig überrascht, dass er sie gar nicht überreden musste. »Das ginge auch.«
»Na, dann nehmen wir doch den. Um sieben?« Lara klappte ihren Organizer wieder auf und trug die Verabredung ein. »Ich bin gespannt auf den neuesten Redaktionsklatsch!«
»Da gibt es allerhand zu berichten.«
»Was denn?«
»Du wirst dich gedulden müssen.« Jetzt war deutlich zu hören, dass Jo lächelte. »Ich berichte nur face to face, nicht am Telefon.«
»Schade. Aber das kann ich aushalten.« Lara verabschiedete sich und starrte auf ihr Saftglas. Was mochte in der Redaktion passiert sein, dass Jo so geheimnisvoll tat? Manchmal vermisste sie nicht nur die Kollegen, sondern auch die Gerüchte.
6
»Und wie kommen Sie damit zurecht?« Mark betrachtete das teigige Gesicht des Mannes, der vor ihm saß. Leon Malz war seit knapp zwei Jahren hier. Er sah älter aus als siebenundzwanzig, die Haut war fahl, Gesicht und Hals waren von entzündeten Pickeln übersät. Wahrscheinlich nutzte er die Zeiten für
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