Das sechste Herz
Geschirr abzuräumen.
»Du hast natürlich recht. Dummerweise hat Magnus zwar all seine Sachen, die er bei der Tat anhatte, entsorgt, nicht jedoch seine Armbanduhr. Wahrscheinlich, weil sie sehr wertvoll war und er sich nicht vorstellen konnte, dass an dem Armband winzige Blutspuren seiner Geschwister haften könnten. Das hat ihn letztendlich überführt.«
»Du hast Geroldsen auch für den Prozess begutachtet, nicht?«
»Sein Verteidiger hatte auf Schuldunfähigkeit plädiert. Hinzu kam, dass Magnus bei der Tat noch minderjährig war. Das Gericht hat mich daraufhin als Gutachter beauftragt. Leider hat Geroldsen bei der Begutachtung nicht mitgewirkt, und so war ich auf Zeugenaussagen und sein Verhalten vor Gericht angewiesen. Ich habe es mir wirklich nicht leicht gemacht, bin aber letztlich zu dem Ergebnis gekommen, dass Geroldsen schuldfähig war.« Mark biss sich kurz auf die Unterlippe. Das schlechte Gewissen nagte manchmal noch immer an ihm. Letztendlich konnten sie in keinen Kopf hineinschauen, und wenn ein Angeklagter nicht zur Zusammenarbeit bereit war, wurde es schwierig, eine exakte Diagnose zu stellen.
»Es ist doch eindeutig, dass hier eine SASA vorliegt. Das wird dir jeder Kollege bestätigen.«
»Davon ist auszugehen.« Mark beobachtete, wie Agnes ein Blatt Küchenkrepp abriss und die Teeblätter aus der Kanne daraufschüttete. » SASA « war die Abkürzung für »Schwere andere seelische Abartigkeit«. Darunter fielen verschiedene Persönlichkeitsstörungen, Paraphilien wie multiple Störungen der Sexualpräferenz und Störungen der Impulskontrolle.
Magnus Geroldsen hatte eine schwere antisoziale Persönlichkeitsstörung mit instrumentell-dissozialem Verhalten. Das hieß, er war auf materielle Werte und Macht ausgerichtet und zeigte übersteigertes Selbstvertrauen, aber eine geringe Frustrationstoleranz. Einfühlungsvermögen, Schuldgefühle oder Angst fehlten solchen Patienten.
»Umgangssprachlich würde man ihn als klassischen Psychopathen mit hohem IQ bezeichnen, auch wenn diese Klassifizierung veraltet ist. Und obwohl mit dieser krankhaften seelischen Störung ein möglicher Grund für eine Schuldunfähigkeit vorlag, fehlte doch bei Magnus die zweite Voraussetzung dafür, nämlich dass er durch die SASA unfähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Er wusste sehr wohl, was er da tat und dass dies ein schweres Verbrechen war. Und deshalb habe ich in meinem Gutachten auf Schuldfähigkeit erkannt.«
»Sehe ich auch so.« Agnes hatte wieder Platz genommen.
»Das alles ist im Prozess hin und her gewälzt worden. Der Gutachter der Verteidigung hat tatsächlich im Gegensatz zu mir Schuldunfähigkeit diagnostiziert. Ich glaube, die Staatsanwaltschaft hat sich auch deswegen davon überzeugen lassen, weil ein rational und eiskalt planender Täter von siebzehn Jahren einfach zu abwegig erscheint. Und so gab das Gutachten der Verteidigung schließlich den Ausschlag, dass Magnus nicht in den Jugendstrafvollzug sondern nach Obersprung gekommen ist. Womit beschäftigt er sich eigentlich, seit er hier ist?« Manchmal verfolgte Mark, wie sich die von ihm Begutachteten nach dem Prozess entwickelten, in manchen Fällen therapierte er sie sogar. Im Fall Magnus Geroldsen war all dies nicht geschehen.
»Er studiert fleißig Jura. Zuerst hat er sein Abitur nachgeholt und dann mit dem Studium begonnen.«
»Lass mich raten – sein gewähltes Rechtsgebiet ist Strafrecht.«
»So ist es. Seit drei Monaten befindet er sich in der Examensvorbereitung.«
»Er nutzt seine Möglichkeiten.« Mark machte Anstalten, sich zu erheben.
»Wenn er aber deiner Meinung nach so intelligent ist, warum lässt er sich dann nicht zum Schein auf eine Therapie ein? Das könnte ihm doch Vorteile verschaffen, bei guten Behandlungserfolgen auch Lockerungen des Vollzugs, eventuell sogar begleiteten Freigang oder Urlaub.«
»Vergiss nicht, er ist erst siebenundzwanzig. Diese Erkenntnis kommt ihm vielleicht noch. Möglicherweise hat er auch Angst, dass man seine Störung als unheilbar diagnostiziert. Dann käme er gar nicht wieder raus. Oder er will einfach nicht. Vielleicht kommt er auch mit Doktor Solomon nicht zurecht. Hast du dich mal mit Geroldsen befasst, seit er hier ist?«
»Nein. Ich sollte das nicht sagen, aber ich fühle mich in seiner Gegenwart unwohl.« Agnes tat es Mark nach und erhob sich. Die plötzlich aufplatzende Zimmertür ließ sie beide zusammenzucken.
»Was machen Sie denn
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