Das sechste Herz
vorstellen, dass es sich nur um einen Täter gehandelt hatte und schon gar nicht, wer das gewesen war.«
»Wo waren denn die Eltern zu der Zeit?«
»Übers Wochenende verreist. Ihre Handys hatten sie zu dem Zeitpunkt, als die Beamten anriefen, ausgeschaltet.«
»Und sie haben die Kinder unter Aufsicht ihres siebzehnjährigen Bruders daheim allein gelassen? Ziemlich unverantwortlich.«
»Nicht doch. Das Kindermädchen, das auch sonst ab und zu aushalf, wenn die Eltern unterwegs waren, sollte das Wochenende über dortbleiben. Magnus hat es angerufen, sich als sein Vater ausgegeben und die junge Frau mit der Begründung, sie hätten es sich anders überlegt und würden doch nicht nach Paris fliegen, abbestellt.«
»Er hat alles geplant.« Agnes French sprach leise.
»Lange vorher.« Mark lauschte nach draußen. Hinter den dicken Mauern der Backsteinvilla war nichts davon zu hören, dass draußen nach einem »Entwichenen« gesucht wurde.
»Aber warum um Himmels willen hat er sie umgebracht? Und warum hat er ihnen die Herzen herausgeschnitten?«
»Wenn wir das wüssten … Während des Prozesses hat er sich nie zu der Tat geäußert. Der Gutachter der Verteidigung hielt es für eine Tat im Drogenrausch. Magnus hat ab und an Haschisch geraucht, das konnte man nachweisen, aber für andere Suchtmittel gab es keine Anhaltspunkte. Ich denke jedoch, dass ein bisschen Haschisch nicht dazu führt, dass jemand seine drei Geschwister umbringt und ihnen die Bäuche aufschlitzt. Es muss andere Ursachen gegeben haben.«
»Hatte er Helfer?«
»Soweit wir wissen, nicht.«
»Er hat das alles ganz allein gemacht?« Agnes drehte den Kopf zur Seite, als im Nachbarzimmer das Telefon klingelte, stand aber nicht auf.
»Zeit genug dazu hatte er. Wir haben die Tat Schritt für Schritt rekonstruiert. Aufgrund der Blutspuren war das nicht so schwierig. Nachdem die Rechtsmediziner die Todeszeit eingegrenzt hatten, war klar, dass er sich seine Geschwister noch am frühen Freitagabend vorgenommen haben musste. Die Eltern hatten am Nachmittag das Haus verlassen. Wahrscheinlich saßen die Kleinen vor dem Fernseher, als er ihnen die Kehle aufgeschlitzt hat.«
»Haben sie sich gar nicht gewehrt?«
»Er hatte ihnen Schlafmittel eingeflößt, wahrscheinlich in den Getränken. Bei der Obduktion wurden Spuren von Flurazepam gefunden.«
»Ich verstehe das Ganze trotzdem nicht. Warum nur hat Geroldsen das getan?«
»Wie du schon sagtest, er schweigt beharrlich. Ich nehme aber an, dass ein Grund war, dass ihm seine Geschwister auf die Nerven gegangen sind. Sie beanspruchten die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern, sodass für ihn nicht mehr viel übrig blieb. Auch haben ihn die Eltern finanziell recht kurz gehalten. Er muss sich vorgestellt haben, dass alle Fürsorge nur noch ihm gilt, wenn die lästigen Mitkonkurrenten weg sind.«
»Denkst du wirklich, dass das Grund genug ist, um seine Geschwister brutal umzubringen?« Agnes schüttelte den Kopf und fuhr dann nachdenklich fort. »Obwohl ich solche Fälle antisozialen Verhaltens auch schon hatte. Warum dann aber die Sache mit den Herzen? Das ist doch völlig normabweichend!«
Mark sah zur Uhr. Er hatte noch zehn Minuten. »Meiner Meinung nach hatte Geroldsen vor, die Tat jemand anderem in die Schuhe zu schieben. Einbrechern, Drogensüchtigen auf der Suche nach Stoff, wem auch immer. Und je grausiger die Tatbegehung, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass man ihm – dem siebzehnjährigen Bruder – die Tat anlasten würde. Deshalb war er ja auch nicht anwesend, als wir die Leichen fanden, sondern bei einer Freundin, mit der er das Wochenende verbracht hatte. Als wir ihn aufgespürt hatten, hat er einen filmreifen Zusammenbruch inszeniert. Seine Schauspielkünste sind enorm.«
»Wie seid ihr ihm auf die Schliche gekommen? Gab es DNA -Spuren?«
»Das war schwierig. Schließlich wohnte Magnus dort, und deshalb wimmelte es im ganzen Haus von seiner DNA . Aber ganz so perfekt, wie er glaubte, war sein Plan trotzdem nicht. Das Lügengespinst wurde recht schnell durchsichtig. Der Vater hatte das Kindermädchen nachweislich nicht angerufen. Sie jedoch behauptete steif und fest, Wulf Geroldsens Stimme erkannt zu haben. Kinder haben oft ähnliche Stimmen wie ihre Eltern. Und es musste jemand gewesen sein, der von dem Kindermädchen wusste. So viele Verdächtige kamen also für den Anruf nicht infrage.«
»Etwas dünn als Hauptbeweis für eine Verurteilung.« Agnes war aufgestanden und begann, das
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