Das sechste Herz
hatte soeben entschieden, die Nacht in ihrem eigenen Bett zu verbringen. »Ich war den ganzen Tag unterwegs, sei mir nicht böse. Ich muss ins Bett.« Jo schwieg. Und sie redete zu schnell. »Wie wäre es mit morgen Vormittag?« Dann sah sie die Bilder noch vor der Pressekonferenz und konnte eventuell Fragen daraus ableiten.
»Mal schauen.« Jo hatte sein Handy hervorgezogen und drückte ein paar Tasten. »Zehn Uhr?« Lara nickte, und er fügte hinzu: »Ich komme zu dir.«
»Das ist super. Danke.« Der Kellner kam, um abzuräumen, und Jo orderte die Rechnung.
»Drei menschliche Herzen …« Sie schüttelte den Kopf. »Was mag da dahinterstecken?« Erst jetzt, als sie die Frage ausgesprochen hatte, wurde Lara klar, was das bedeutete.
Drei Herzen. Drei Menschen. Drei Tote.
Wo waren die Opfer?
10
»… wurde der Fund am Dienstagvormittag gemacht.« Der Pressesprecher blickte ernst in die Menge. Sein Schnauzbart bewegte sich beim Sprechen auf und ab wie eine pelzige Raupe. »Die Spurensicherung ist vor Ort, und es wird noch einige Zeit dauern, bis wir Sie über Einzelheiten informieren können. Bitte sehen Sie davon ab, das Fabrikgelände aufzusuchen.« Eine Reihe vor Lara schrieb Christin Dunkel eifrig jedes Wort mit. Entweder hatte sie ihr Aufnahmegerät vergessen, oder sie besaß keins. Lara schüttelte die nostalgischen Gefühle ab. Bis vor einem Jahr war sie die Gerichtsreporterin der Tagespresse gewesen, und jetzt saß dieses Hühnchen dort und wollte ihr nacheifern. Aber sie hatte es nicht anders gewollt.
»Aus ermittlungstaktischen Gründen können wir momentan leider keine weiteren Details veröffentlichen.« Neben dem Pressesprecher nickte der Polizeipräsident gemessen und begann dann, Papiere zu ordnen. Das war alles? Lara sah, wie der große dünne Mann neben ihr in seinen Unterlagen kramte. Würden sich die Kollegen mit derart dürftigen Informationen abspeisen lassen?
Ganz vorn stand ein älterer Kollege auf. »Fritz Henkel von der Morgenpost . Stimmt es, dass es sich bei den Leichenteilen um menschliche Herzen handelt?«
Der Beamte, der links im Präsidium saß, verzog kurz den Mund und starrte dann über die Köpfe hinweg. Der Pressesprecher rieb sich die Nase, schaute zum Polizeipräsidenten und wartete, bis dieser unmerklich nickte, ehe er antwortete. »Das können wir bestätigen.«
Ein Raunen wanderte durch den Saal, und der Dünne neben Lara begann, geschäftig auf die Tasten seines Smartphones einzuhämmern. Eigentlich war allen hier klar, dass es weder einen Polizeieinsatz noch eine Pressekonferenz gegeben hätte, wenn es sich um tierische Herzen gehandelt hätte. Aber eine Bestätigung von offizieller Seite war natürlich für die Presse etwas anderes als ungesicherte Vermutungen.
Sie dachte kurz an die Bilder, die Jo ihr vorhin gezeigt hatte. Die Polizei hatte kein Wort davon erwähnt, dass die Tagespresse vorab Informationen zum Fundort der Leichenteile per Brief erhalten hatte.
»Und diese Herzen befanden sich in Thermogefäßen und waren tiefgefroren?« Fritz Henkel von der Morgenpost gab nicht auf. Er hatte Insiderinformationen. Vielleicht kannte er jemanden aus Laras ehemaliger Redaktion. Irgendwer musste ihm Einzelheiten verraten haben. Neben ihr erhöhte der Dünne seine Schreibfrequenz. Die beiden Reporter vom regionalen Fernsehen in der ersten Reihe bewegten die Kameras von links nach rechts, um nichts zu verpassen. Wahrscheinlich wollten sie ihre Aufnahmen gleich im Anschluss anderen Sendern anbieten.
»Dazu können wir aus ermittlungstaktischen Gründen nichts sagen.« Lara verzog den Mund. Immer die gleiche Floskel. Der Polizeipräsident machte Anstalten, sich zu erheben.
»Können Sie etwas zu den Opfern sagen? Wem hat der Täter diese Herzen herausgeschnitten?« Fritz Henkel schrie jetzt fast. Einer der Beamten in Uniform, der neben dem Präsidium an der Seite stand, setzte sich langsam in Bewegung, als erwarte er, dass der erregte Reporter sich gleich auf den Polizeipräsidenten stürzen werde.
»Die rechtsmedizinischen Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Nach weiteren Spuren wird gesucht. Wir werden Sie zu gegebener Zeit informieren.«
Noch während der Pressesprecher seine nichtssagenden Sätze geblafft hatte, waren die anderen beiden Männer im Präsidium aufgestanden und hatten sich zum Gehen gewandt. Das stete Raunen im Saal wuchs zu einem Dröhnen an. Die Pressekonferenz war beendet. Lara schaltete ihr Diktiergerät ab und sah sich um. Nichts, was
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