Das sechste Herz
sie nicht vorher schon gewusst hatte. Aber für fast alle anderen mussten die Informationen schockierend gewesen sein. Es würde nicht einmal eine Stunde dauern, bis das die Runde gemacht hatte, und dann würde es bei der nächsten Pressekonferenz von Fernsehsendern nur so wimmeln. Wahrscheinlich brachen in diesem Augenblick schon die ersten Reporter nach Leipzig auf, um vor Ort über den grausigen Fund zu berichten.
Lara schob sich hinter dem Dünnen durch die engen Stuhlreihen. Christin Dunkel hatte bis jetzt in ihrer Tasche gekramt und kam nun in Richtung Ausgang. »Ich habe dich vorhin gar nicht gesehen.« Während sie Laras Hand schüttelte, huschte ihr Blick von links nach rechts.
»Ich saß hinter dir. Gehen wir noch einen Kaffee trinken?« Die Kollegin ließ die Mundwinkel herabhängen, und Lara hoffte, dass sie noch Zeit für ein Schwätzchen hatte.
»Maximal eine Viertelstunde. Dann muss ich zurück in die Redaktion. Tom möchte, dass ich gleich Bericht erstatte, und dann muss ich den Artikel für morgen schreiben.«
»Prima.« Natürlich wollte Tom das. Einen großen Artikel mit vielen reißerischen Informationen, der die Auflage steigerte. Nebeneinander verließen sie den Konferenzraum. Christin winkte dem großen Dünnen zu, der vor ihnen die Stufen hinabeilte.
»Das Cherchez ist gleich um die Ecke.« Lara wickelte sich den Schal um den Hals. Seit heute früh schneite es, und sie trug die falschen Schuhe. Stiefel wären bei dem Wetter angebrachter gewesen.
»Wozu haben die überhaupt eine Pressekonferenz abgehalten, wenn sie nicht vorhatten, konkrete Informationen herauszurücken?« Lara rührte in ihrem Cappuccino. Sie hatte Jo versprochen, nicht zu verraten, dass sie von den Insiderinformationen wusste und die Fotos gesehen hatte.
»Ich denke, ewig hätten sie das nicht geheim halten können. Tom ist ja schon ganz heiß darauf, die Einzelheiten in der Tagespresse auszubreiten.«
»Ihr habt Details?«
»Na ja …« Man konnte sehen, dass die Kollegin zwischen dem Wunsch, sich bei Lara mit ihrem Wissen interessant zu machen, und nicht zu viel zu verraten, hin- und hergerissen war. Die Eitelkeit siegte, und sie erzählte von dem Brief und der Karte und wie Patrick Seiler die Behälter auf dem Gelände gefunden hatte. »Alle dachten zuerst, es seien Schlachtabfälle.« Christin Dunkel schüttelte sich.
»Und die Herzen befanden sich in Thermobehältern?«
»In so alten Dingern, wie sie früher bei der Armee verwendet worden sind. Ich möchte wissen, wo man so etwas heute noch herkriegt.«
Das war eine gute Frage. Lara nahm sich vor, das zu recherchieren. »Wisst ihr schon, ob die Herzen von Frauen oder Männern stammen?«
»Nein. Auch von den Opfern fehlt bisher jede Spur.«
»Vielleicht gibt es gar keine Opfer.«
»Wie meinst du das? Irgendwo muss der Täter die Herzen doch her haben. Menschenherzen gibt es schließlich nicht im Supermarkt.« Christin Dunkel kicherte und wühlte dabei in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie.
»Vielleicht sind sie von Toten.«
»Von Toten? Wenn man jemandem das Herz herausschneidet, ist er doch mit Sicherheit tot, oder?« Christin Dunkel hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Und ihr Mund stand ein wenig offen. Sie war begriffsstutziger, als Lara gedacht hatte.
»Er könnte sie sich vom Friedhof geholt haben. Von frisch Begrabenen zum Beispiel. Wir haben Frost, da verwesen die nicht so schnell.«
»Das ist ja noch abscheulicher, als ich dachte.«
»Nicht so schlimm wie drei Ermordete.«
»Da hast du auch wieder recht. Interessanter Gedanke jedenfalls.« Sie legte fünf Euro auf den Tisch und erhob sich. »Ich muss los. Wir sehen uns. Spätestens bei der nächsten Pressekonferenz.« Noch ein nervöses Kichern, dann marschierte sie hinaus.
Lara sah ihr nach und nahm das Notizbuch heraus, um die ungeklärten Dinge aufzuschreiben, denen sie nachgehen wollte. Wen würde sie danach fragen können? Vielleicht konnte Mark ihr weiterhelfen. Er hatte schließlich einige Jahre als Fallanalytiker für die Kriminalpolizei gearbeitet und kannte so ziemlich jeden, der sich in irgendeiner Form mit Verbrechen befasste. Und dann musste sie wegen der Sache mit Jens Hohnstein telefonieren und ihren Artikel vorbereiten.
Konnte man überhaupt nachweisen, ob Fleisch eingefroren worden war und wie lange? Welche Anzeichen gab es, ob das Gewebe von einem Toten stammte?
11
»Hast du’s im Kopf empfunden, als dich letzthin einer einen Betrüger und schlechten Kerl nannte?
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