Das sechste Herz
Hat es dir im Magen wehe getan, als der Amtmann kam, dich aus dem Haus zu werfen? Was, sag an, was hat dir wehe getan?«
»Mein Herz«, sprach Peter, indem er die Hand auf die pochende Brust preßte, denn es war ihm, als ob sein Herz sich ängstlich hin und her wendete. »Aber wie kann man sich denn angewöhnen, daß es nicht mehr so ist? Ich gebe mir jetzt alle Mühe, es zu unterdrücken, und dennoch pocht mein Herz und tut mir wehe.«
»Du freilich«, rief jener mit Lachen, »du armer Schelm kannst nichts dagegen tun; aber gib mir das kaum pochende Ding, und du wirst sehen, wie gut du es dann hast.«
»Euch, mein Herz?« schrie Peter mit Entsetzen. »Da müßte ich ja sterben auf der Stelle! Nimmermehr!«
Und so war es. Die alten Märchen hatten recht. Auf dem Bild zeigte der Holländer-Michel, der etwa doppelt so groß war wie Peter, diesem ein steinernes Herz. Auf dem mannshohen Regal hinter ihm waren zahlreiche Einweckgläser mit Namensschildern aufgereiht, in denen Herzen in einer Flüssigkeit schwammen.
Er zog den rechten Mundwinkel hoch und strich zärtlich mit dem Zeigefinger über die Illustration. Leider war seine Aufgabe nicht so leicht wie die des Holländer-Michels. Es reichte nicht, die kostbaren Gebilde in Gläsern zu verstauen und sie auf einem Wandbord aufzubewahren. Er musste sie, sorgfältig in Folie verpackt, für den späteren Gebrauch tiefgefrieren. Erst, wenn die Stimme es ihm sagte, durfte er sie entnehmen und in Thermobehältern an die vorgegebenen Stellen bringen.
Erst gestern – fast drei Tage später – war der Fund der ersten drei Herzen gemeldet worden. Er hatte keine Ahnung, warum das so lange gedauert hatte, aber nachdem die Katze einmal aus dem Sack gewesen war, hatten sich alle auf das Thema gestürzt und jedes noch so kleine Detail ausgeschlachtet. Mehrere Reporter hatten sogar unabhängig voneinander versucht, auf das Gelände der Eisenwarenfabrik zu gelangen, um dort Nachforschungen anzustellen, waren aber geschnappt worden.
Sanft klappte er das Buch zu, brachte es zurück ins Regal und machte sich auf den Weg in die Küche.
Noch immer berichteten Boulevardmagazine und Nachrichtensender von den »grausigen Details«, wie sie es nannten. Der junge Mann von der Tageszeitung, der die Behälter gefunden und mitgenommen hatte, wurde auf Schritt und Tritt beobachtet. Interviews schien er keine geben zu dürfen. Jedenfalls sah man ihn immer nur durchs Bild huschen, die Mütze tief über die Augen gezogen, wie er gerade im Eingang zum Redaktionsgebäude verschwand oder mit dem Rad davonfuhr.
Dass er später noch einmal mit einem älteren Kollegen dort gewesen war, schien der Typ verschwiegen zu haben. Jedenfalls berichtete niemand davon. Es war immer nur die Rede von Patrick S., Praktikant bei der Tagespresse , der einem anonymen Schreiben nachgegangen war und an den angegebenen Stellen die drei menschlichen Herzen gefunden hatte.
Mit einem Schmatzen öffnete sich der Deckel der Kühltruhe. Er hatte das Gefühl, dass Janinas eisige Kristallaugen ihn unter der Folie hindurch anblickten, während er sie mit einem »Na, wie geht’s uns denn heute?« begrüßte.
Was würde eigentlich passieren, wenn die Videos mit den beiden Pressefuzzis in der Öffentlichkeit auftauchten? Wenn alle Welt sehen konnte, wie dieser Patrick S. und sein Kollege auf dem Fabrikgelände herumtrampelten und Fotos schossen? Er schüttelte den Kopf. Die beiden Dummköpfe hatten keine Ahnung davon, dass sie die ganze Zeit bei ihrem Tun beobachtet worden waren. Dass sie in ihrem Übereifer zudem Spuren zerstörten, schien ihnen egal gewesen zu sein. Nicht dass ihn das gestört hatte, im Gegenteil. Es war sogar ganz nett von ihnen, dass sie ihm unbewusst beistanden. Das Problem bei der Angelegenheit war, dass es nicht so stattfand wie geplant. Die Stimme hatte genaue Vorstellungen gehabt, wie der spektakuläre Fund ablaufen sollte und wie sich die Medien noch am gleichen Tag auf die Sache stürzen würden. Stattdessen waren diese beiden Trampel gekommen und hatten das Fabrikgelände abgesucht, um beim Eintreffen der Spurensicherung wie der Blitz über den rückwärtigen Bereich zu verschwinden. Dafür gehörten sie eigentlich bestraft, indem man die Öffentlichkeit informierte. Aber das zu tun, war nicht seine Aufgabe.
Mit einem Ächzen hob er die kleine Puppe aus ihrem eisigen Bett und trug sie ins Bad. Tot waren sie immer schwerer. Und der Gefrierprozess schien ihren Körpern zusätzliches Gewicht zu
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