Das sechste Herz
verleihen.
Es war wichtig, dass man die Überreste nicht fand, hatte die Stimme gesagt, nicht in den nächsten Wochen und Monaten jedenfalls, damit sie nicht vorzeitig aufflogen. Genau wie die Überreste der ersten drei. Alles musste bis aufs Kleinste beseitigt werden.
Pfeifend griff er nach der Motorsäge. In Gewässern tauch-ten sie unweigerlich irgendwann wieder auf. Spätestens im Frühjahr. Außerdem waren Seen und Teiche seit zwei Wochen zugefroren. Vergrub man die Einzelteile, wurden sie von hungrigen Tieren wieder ausgebuddelt. Im Ofen verbrennen konnte man sie auch nicht. Es blieben immer Knochenfragmente zurück.
Leise surrend schnitt sich das Sägeblatt durch die Folie. Die Beine zuerst. Dann wurde der Rest handlicher. Nach der groben Arbeit musste er alles in kleine Stückchen schneiden. Von den ersten dreien wusste er, dass das Stunden dauerte. Nicht dass er es eilig gehabt hätte, aber er musste gewappnet sein, stets bereit für neue Aufgaben. Schon bald konnte die Stimme ihm neue Anweisungen geben, ihn beauftragen, neue Spender ausfindig zu machen oder Janinas Herz an einer bestimmten Stelle zu deponieren.
12
In dem goldgerahmten Bild hatte Anna den Arm um ihre beiden Kinder gelegt. Sie lächelte, genauso wie ihre Tochter Joanna, deren Haar in der Sonne golden schimmerte. Franz hatte das Gesicht zu einem widerwilligen Grienen verzogen. Pubertierende Jungs waren nicht immer einfach. Mark lächelte immer noch, als die Tür aufging und Schwester Annemarie ihm drei Akten hereinbrachte.
»Frank Studer ist noch nicht da. Willst du die neue Patientin vorziehen? Sie sitzt schon seit einer halben Stunde in Wartezimmer eins.«
»Das kann ich machen. Schick sie bitte in fünf Minuten zu mir rein. Wenn Herr Studer noch kommt, soll er warten.« Mark überflog die Angaben auf der Akte und dachte über Frank Studer nach. Der junge Mann verspätete sich nicht zum ersten Mal. Letzte Woche war er gar nicht erschienen, hatte einen Tag später angerufen und sich damit entschuldigt, dass es ihm nicht gut gegangen war. Wenn das so weiterging, würden sie ein ernsthaftes Gespräch miteinander führen müssen. Zwar hatte man ihn vor vier Monaten aus der psychiatrischen Klinik entlassen, jedoch brauchte Studer nach wie vor die ambulante Behandlung. Wenn er einfach so wegblieb und womöglich auch seine Medikamente nicht oder unregelmäßig einnahm, würde sich sein Zustand verschlechtern.
Mark suchte in Frank Studers Akte nach einer Telefonnummer und nahm sich vor, Annemarie damit zu beauftragen, den jungen Mann nachher anzurufen, falls er nicht noch erschien.
»Bis Dienstag. Ihr Rezept bekommen Sie draußen bei meiner Sprechstundenhilfe. Auf Wiedersehen.« Mark zog die Tür hinter der jungen Frau ins Schloss, ging zurück zu seinem Schreibtisch und prüfte die Eintragungen über seine neue Patientin, als die Wechselsprechanlage knackte. »Herr Studer ist jetzt hier.«
»Schick ihn rein.« Studers Akte lag noch auf dem Tisch, aber Mark musste nicht hineinschauen, um sich an dessen Krankheitsbild zu erinnern. Frank Studer war schwerer Alkoholiker und hatte jahrelang Drogen genommen, bis ihn irgendwann neben den geistigen Symptomen, mit denen er sich gewiss schon länger herumplagte, komplexe neurologische Symptome des Delirium tremens ereilt hatten. Zu seinen Angstzuständen, Orientierungsstörungen und Halluzinationen hatten sich heftige Krämpfe gesellt, die ihn kurzzeitig ins Koma befördert hatten. Frank Studer war in die Notaufnahme gekommen und hatte tagelang auf der Intensivstation zugebracht. Weil er aggressiv und zudem psychotisch gewesen war, hatte man ihn mit Diazepam zur Beruhigung und Haloperidol gegen die Halluzinationen behandelt.
Nachdem die akuten Symptome abgeklungen waren, war Studer stationär ins psychiatrische Krankenhaus Obersprung eingewiesen worden, wo man ihn mehrere Monate lang therapiert hatte. Erst nachdem sich sein Zustand deutlich stabilisiert hatte, hatten ihn die Ärzte dort in die ambulante Behandlung entlassen. Zusätzlich besuchte er in Leipzig eine Therapiegruppe.
Wenn er denn erschien. Es wäre besser gewesen, wenn Frank Studer sich einen Therapeuten in Leipzig gesucht hätte, statt jedes Mal nach Berlin zu fahren, aber er hatte darauf bestanden, zu Mark zu kommen, weil dieser ihm empfohlen worden war und er ihm vertraute.
Mark klappte die Akte zu, stand auf, um den Patienten zu begrüßen, und nahm sich vor, ihn zu seiner Teilnahme an der Therapiegruppe zu befragen.
Frank
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