Das sechste Herz
dieser Typ sitzt doch im Maßregelvollzug, hast du gerade gesagt. Er kann es also demnach nicht gewesen sein.« Jo schob die leeren Gläser auf dem Tischtuch hin und her und redete gedankenversunken weiter. »Vielleicht hatte er damals einen Komplizen. Oder hat jetzt einen gefunden, zum Beispiel jemanden, der auch da drin war und entlassen wurde. So etwas soll doch vorkommen, oder?« Lara notierte »Komplize – damals? heute?« auf ihrem Stichpunktzettel.
»Natürlich gibt es das. Die Vollzugsgesetze sind zwar nicht in jedem Bundesland gleich, aber doch recht ähnlich. In Deutschland ist es so, dass die sogenannte Maßregel für schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Straftäter, die als gefährlich gelten und von denen man weitere Straftaten erwartet, unbefristet ist. Das heißt, theoretisch könnten solche Straftäter tatsächlich bis zu ihrem Lebensende im Maßregelvollzug bleiben. Die entsprechenden Vollzugseinrichtungen haben jedoch die Aufgabe, die Patienten zu behandeln. Das Ziel ist eine weitgehende psychische Stabilisierung und Rehabilitation und damit der Wegfall der strafrechtlichen ›Gefährlichkeit‹. Ist euch das zu technisch?« Lara schüttelte den Kopf, während sie fieberhaft Stichpunkte auf ihren Block schrieb. Sie würde das alles nachrecherchieren müssen. Dann konnte sie die Hintergründe gut in einem Artikel darstellen. Mark hatte seine Erklärungen inzwischen fortgesetzt. »Das ist meist ein langwieriger Prozess, bei dem Therapeuten und Sachverständige eng zusammenarbeiten müssen. Bei einer Stabilisierung können dann Vollzugslockerungen einsetzen. Sie beginnen mit ›Ausführung‹ – das ist ein begleiteter Ausflug nach draußen – und setzen sich über Freigang bis hin zu Urlaub fort.«
»Heißt das, so ein psychisch gestörter Mörder ist draußen mehrere Tage unbeobachtet?« Jo klang grimmig.
»Alle Lockerungen, besonders die ersten, werden immer durch Konferenzen geprüft und beschlossen. Ich verstehe deinen Unmut zum Teil, aber in den Konferenzen sitzen Fachleute, Jo. Auch für ›normale‹, also schuldfähige Strafgefangene, gilt das Prinzip Hoffnung, und fast niemand sitzt tatsächlich lebenslang im Knast. Das Gleiche muss auch für psychisch kranke Straftäter gelten.«
»Muss es das?« Jo gab sich noch nicht geschlagen. Lara ahnte, was sie beide gleich auf der Heimfahrt nach Leipzig diskutieren würden.
»Das wäre eine Grundsatzdiskussion, die wir hier und jetzt nicht ausfechten können. Im Gesetz steht jedenfalls, dass es auch für die Patienten im Maßregelvollzug eine Entlassung zur Bewährung geben kann, wenn die Prognose günstig ist und die bei der Tat zutage getretene Gefährlichkeit nicht weiter fortbesteht. Dies stellen forensische Sachverständige fest.«
»So jemand wie du?« Lara hatte aufgehört zu schreiben und ertappte Mark dabei, wie er heimlich auf seine Armbanduhr schielte.
»Auch ich. Allerdings nicht allein. Zuständig für die Entlassung zur Bewährung sind die Strafvollstreckungskammern. Sie überprüfen regelmäßig die Fortdauer der Maßregel. Seit 1998 wurde im Zug der Strafrechtsreformen die Entlassung auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug unter öffentlichem Druck deutlich erschwert. Und nicht zuletzt tritt danach automatisch Führungsaufsicht ein. Der Entlassene untersteht einer Aufsichtsstelle und wird von einem Bewährungshelfer betreut.«
»Von wie vielen Patienten reden wir denn hier überhaupt?« Jo sprach das Wort »Patienten« ein bisschen verächtlich aus.
»In Deutschland über zehntausend.«
»Das ist ja immens! Und wie viele davon brechen aus?«
»Eine offizielle Statistik für sogenannte Entweichungen, so nennt man die Ausbrüche, und den Missbrauch der Lockerungen gibt es leider nicht. Die Ministerien mancher Bundesländer hüten ihre Daten wie Staatsgeheimnisse.«
»Warum wundert mich das jetzt nicht?« Jo schien zornig zu sein.
»Es ist ein brisantes Thema, da gebe ich dir recht. Außerdem sind die Bewertungskriterien, wie diese Vorfälle einzustufen sind, unterschiedlich. In Sachsen gibt es fünf Maßregelvollzugseinrichtungen mit um die vierhundert Patienten, in Berlin nur eine, dafür aber mit über fünfhundert Insassen. Ich habe Zahlen aus Bayern gesehen, da wurde über die Jahre hinweg rund dreihunderttausendmal die höchste Lockerungsstufe gewährt.«
»Das erscheint mir unheimlich viel!« Lara hatte die Augen aufgerissen, während sie eifrig Zahlen notierte.
»Ja, das mag sein. Aber schreib auch auf,
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