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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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reichte das Handy zu Lara hinüber. Sie fühlte, wie ihr Pulsschlag sich abrupt beschleunigte. Auf dem Display war ein Ausschnitt aus dem Stadtplan von Leipzig zu sehen, die Wittenberger Straße in der Mitte, darauf einer dieser Google-Luftballons mit einem »A« darin. Links davon fand sich eine Liste mit Links, die der Adresse zugeordnet waren. Lara konnte Jo neben sich schnaufen hören, während ihr Blick über die Einträge glitt und an einem hängen blieb: HERZ -Werbeteam , 04129 Leipzig.

26
    » Herz an Herz, hörst du mich. Ich höre deine Stimme, aber seh dich nicht … Ich weiß ja noch nicht mal, wer du bist, Herz an Herz, hörst du mich ?« Frank Studer sang. Er konnte es nicht besonders gut, seine Stimme klang brüchig, und die Melodie war auch nicht immer richtig, aber das störte ihn nicht. In seinem Auto konnte ihn niemand hören, und ihm war jetzt einfach danach. Er musste sich Luft machen, seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, der überschäumenden Freude Platz verschaffen. Ohne dass er es geplant hatte, war dieses Lied von früher wie ein Sturzbach, wie eine Flutwelle voller Emotionen aus ihm herausgebrochen. Er konnte sich noch an die Sängerin erinnern, ein Pop-Sternchen aus den Neunzigern, deren Nase immer irgendwie zu groß ausgesehen hatte.
    Der Parkplatz vor dem Supermarkt war schon ziemlich leer. Frank drehte eine Runde und stellte das Auto dann in einer dunklen Ecke ab. Er hatte extra eine Einkaufsstätte im Nachbarort gewählt, weil die Gefahr, hier jemanden Bekanntes zu treffen, ziemlich gering war. Es musste ja nicht gleich jeder sehen, was er im Wagen hatte, zumal das heute ein für ihn ungewöhnlicher Einkauf war.
    Das Geldstück rutschte in den Schacht, und der Metallkäfig löste sich von den anderen. In der Luft lag ein Geruch von nassem Schnee und Räucherkerzchen. Frank zog den Schal über den Mund und die Mütze bis zu den Augen und sah sich nach allen Seiten um. Es war bereits kurz nach halb acht, der Supermarkt schloss um zwanzig Uhr. Allzu viele Leute würden nicht mehr hier sein. Gemächlich spazierte er zum Eingang.
    Frank zog die Mütze ab, kratzte sich hingebungsvoll am Haaransatz und seufzte dabei. Durch den Wollstrick hatte seine Stirn in dem überheizten Laden wie verrückt gejuckt, aber er hatte die Kopfbedeckung nicht absetzen wollen. Langsam rollte das Auto vom Parkplatz. Bis auf zwei Jugendliche und eine Oma mit Rolltasche war er der einzige Kunde gewesen. Er glaubte nicht, dass die anderen ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt hatten, und auch die Kassiererin hatte nicht ein einziges Mal zu ihm aufgeblickt, sondern stoisch die Waren über den Scanner gezogen, Scheine in der Kasse verstaut und das Wechselgeld in die Plastikschale geworfen.
    Die Scheinwerfer seines Autos bohrten zwei Lichtkegel in die Finsternis. Schwarz glänzte der Asphalt der Landstraße. Er musste achtsam fahren. Bei diesen Temperaturen überfror die Nässe schnell, und man konnte trotz der Winterreifen ins Schleudern kommen. Vorfreude auf den heutigen Abend erhitzte seine Brust. Die Angst, etwas Falsches getan zu haben, seine Sorge, dass die Stimme von ihm enttäuscht sein könnte, war verflogen.
    Dabei hatte die Besorgnis ihn noch gestern Nacht bald aufgefressen. Frank dachte an Lisas schlaffen Körper auf der Folie in seiner Garage und sein Herzklopfen, als er den ersten Schnitt in die weiße Haut zwischen den kleinen Brüsten gesetzt hatte. In Zeitlupe hatte sich der Schnitt in eine dunkle Linie verwandelt, die schnell tiefer aufklaffte und den Blick auf gelbliches Fettgewebe unter der obersten Schicht freigegeben hatte. Dunkelrotes Blut war herausgesickert, und im ersten Moment hatte er befürchtet, dass sie schon tot sein könnte. Dabei war er doch mit dem Draht so vorsichtig gewesen! Er wollte ihr schlagendes Herz erblicken, wollte das rote zuckende Fleisch in der Brust vibrieren sehen, wollte es mit dem Zeigefinger berühren und das Erschauern des Muskels fühlen. Bloß nicht zu fest und zu lange zuziehen, hatte er sich vorher immer wieder gesagt. Und dann wäre ihm die Sache im Eifer des Gefechts doch fast entglitten, weil ihr schwächer werdendes Zappeln und das Röcheln ihm solchen Spaß gemacht hatten. Am liebsten hätte er den Moment stundenlang ausgekostet, seine Finger hatten den Draht gar nicht loslassen wollen. Erst das leise Rascheln eines Tieres im Gesträuch unter den Fichten hatte ihm bewusst gemacht, dass ihr Widerstand schon seit einiger Zeit erloschen war. Als er sie in die

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