Das sechste Herz
schnellen Schritten war er hinter ihr. Der ausgestreckte Arm berührte ihre Schulter, die linke Hand packte zu.
»Hallo Lisa. Schön, dass du mich mal besuchst.« Sie taumelte kurz, dann schrie sie. Schrie wie ein angeschossenes Reh. Er musste ihr das Knie in den Rücken rammen, um sie zur Ruhe zu bringen. Auf ihrem Rücken kniend, schlang er den festen Blumendraht mehrfach um ihren Hals; zog zu, immer fester, bis aus dem Keuchen ein Röcheln wurde. Gleich darauf war sie still.
Dann begann er, sie in Richtung Haus zu schleppen. Die kleine Spionin war deutlich schwerer, als er es sich vorgestellt hatte, aber das machte nichts. Er war stark und der Weg zurück zur Garage nicht weit.
Frank konnte es nicht sehen, aber seine Zähne blitzten weiß in der Nacht, während er lachte.
25
Albert Witte bog von der Berliner auf die Wittenberger Straße ab und trat das Gaspedal durch. Er wollte nicht zu spät kommen, seine Firma verkündete im Internet, dass sie täglich ab zehn Uhr geöffnet sei. Manchmal verirrten sich tatsächlich schon am Vormittag Kunden hierher, die meisten meldeten sich jedoch zuerst telefonisch oder per E-Mail. Wie immer um diese Uhrzeit herrschte wenig Verkehr. Die Gegend hinter dem Leipziger Hauptbahnhof glänzte nicht mit frisch renovierten Gründerzeithäusern oder Neubauten, sondern wirkte verlassen und an manchen Stellen auch ein bisschen schäbig, obwohl die Stadt vor ein paar Jahren Bäume gepflanzt und sich um die Sanierung der Häuser bemüht hatte.
Vor der Einfahrt auf den Parkplatz bremste er und sah sich um. Das vierstöckige Bürogebäude beherbergte mehrere Unternehmen. Jetzt, im Winter, blendete die weiße Fassade noch mehr als sonst. Albert Witte kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein Niesen. Nicht gerade eine renommierte Adresse für seine Firma, aber die Büromieten waren günstiger als anderswo in der Innenstadt, und die zentrale Lage hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbarg eine gelbe Backsteinmauer nur notdürftig eine Fabrikruine. Vorsichtig setzte er die Füße auf den Boden. Es war glatt heute Morgen und der Parkplatz nicht gestreut. Es fehlte noch, dass er auf einer der überfrierenden Pfützen ausrutschte und sich ein Bein brach. Albert Witte managte die Firma fast im Alleingang, seit sein Freund und Kollege einen Herzinfarkt gehabt hatte, und wenn er auch noch ausfiel, konnten sie gleich dichtmachen. Mit vorsichtigen Schritten überquerte er den Platz. Die Logistikfirma im ersten Stock hatte ihre Fenster mit Werbung beklebt. Unter dem Glasportal standen die Türen halb offen. Nicht zum ersten Mal übrigens. Albert Witte ärgerte sich. Irgendjemand in diesem Haus war nicht in der Lage, den Eingang ordnungsgemäß verschlossen zu halten. Natürlich konnte jeder, der es wollte, herein, aber sie hatten alle Wechselsprechanlagen, und gerade jetzt in der kalten Jahreszeit mussten sie die Energiekosten nicht unnötig in die Höhe treiben, indem sie Flur und Außenbereich mitheizten.
Er versuchte, die Glastüren zuzudrücken, aber sie klemmten. Womöglich waren sie gestern Abend schon defekt gewesen, und das Haus hatte die ganze Nacht offen gestanden. Auf dem Weg nach oben nahm er sich vor, als Erstes den Hausmeisterservice anzurufen.
Seine Schritte hallten über den Flur. Die Wände waren weiß, nackt und ungemütlich. Vielleicht sollte man ein paar Bilder aufhängen, damit die Kunden es wohnlicher fanden. Er war mit seiner Firma der Einzige hier oben im dritten Stock.
Schon von Weitem sah er, dass jemand etwas vor seiner Bürotür abgestellt hatte. Wahrscheinlich war der Paketdienst heute früher als sonst da gewesen. Im Näherkommen überlegte Albert, was er in den letzten Tagen bestellt hatte, aber ihm fiel nichts ein.
Erst kurz vor dem Eingang erkannte er, dass das Gebilde eine eher runde Form hatte. An beiden Seiten waren kleine Klappgriffe. Vorn prangte auf dem schlammgrünen Untergrund eine handgemalte »5«. Das vermeintliche Päckchen war ein Thermogefäß. Albert Witte schüttelte den Kopf und beugte sich nach vorn, um den Verschluss zu lösen.
*
Lara gähnte. Das leise Summen des Motors und die Wärme brachten ihre Schläfrigkeit zurück.
Die Nacht war kurz gewesen. Zu kurz. Sie schielte zu Jo hinüber und wandte den Blick schnell wieder ab. Vor dem Beifahrerfenster glitten Gründerzeithäuser vorbei. In der Nacht waren die Wolken verschwunden, und die aufgehende Sonne tauchte alles in ein unwirkliches
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