Das sechste Herz
Endlich hatte einer die alles entscheidende Frage gestellt, aber der Beamte blockte sofort ab. »Nach momentanem Kenntnisstand keine.« Er sah kurz nach links, von wo er ein geheimes Zeichen zu bekommen schien.
»Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir keine weiteren Auskünfte geben können. Danke.« Noch ehe jemand protestieren konnte, war er schon aufgestanden, und die anderen vier folgten ihm. Raunen setzte ein, und innerhalb weniger Sekunden glich der Raum einem Bienenstock.
Auch Jo stand auf. »Nichts, was wir nicht schon wussten.« Er schien enttäuscht.
»Was wir inoffiziell wussten.« Lara schaltete das Diktiergerät aus und tätschelte seinen Arm. Zwei Reihen vor ihr erhoben sich Christin Dunkel und ein junger Mann. Das musste der neue Praktikant sein. »Jetzt kann ich meinen Text, den ich heute früh geschrieben habe, nämlich zum Drucken freigeben. Jens hat mir eine Artikelserie genehmigt.« Sie winkte Christin zu, und diese erwiderte den Gruß.
Es dauerte mehrere Minuten, bis die Kollegen von der Tagespresse sich durch das Gewühl zu Lara und Jo durchgekämpft hatten und sie sich die Hände schütteln konnten.
»Das ist Lara Birkenfeld, eine ehemalige Kollegin. Jo kennst du ja schon. Lara, das ist Patrick. Unser neuer Praktikant.« Christin deutete auf den jungen Mann, der verlegen neben ihr stand.
Lara verkniff sich ein Grinsen. Schon wieder keine junge, knackige Praktikantin! Das würde Tom Fränkel gar nicht gefallen.
»Habt ihr noch Zeit für einen Kaffee?« Jo griff nach ihren Jacken.
»Maximal eine Viertelstunde. Dann müssen wir zurück. Tom möchte den Artikel noch sehen, bevor er rausgeht.« Christin drehte sich um und marschierte voran. Ihr breiter Hintern schwenkte von links nach rechts, und Lara ertappte Jo dabei, wie er der Bewegung mit faszinierten Blicken folgte. Die Kerle waren doch alle gleich.
Zwanzig Minuten später hatte Lara fast den gesamten Redaktionsklatsch erfahren und Patrick darüber ausgehorcht, wie das mit den Thermobehältern und den Herzen darin gewesen war.
Christin schaute zur Uhr. »Hat Spaß gemacht, mal wieder mit dir zu plaudern, Lara, aber wir müssen los. Zum Glück ist dieser schreckliche Fall jetzt geklärt, und der Täter hat sich auch gleich selbst bestraft. Studer ist tot. Also wird es keine weiteren herausgeschnittenen Herzen geben.«
»Müsste es nicht ›der mutmaßliche Täter‹ heißen?«
»Im Prinzip hast du recht, Patrick. Solange nicht zweifelsfrei bewiesen ist, dass jemand tatsächlich für eine Tat verantwortlich ist, schreiben wir mutmaßlich. Aber du hast ja die Kripo vorhin gehört. Bei Frank Studer kann man davon ausgehen, dass die Beweise für seine Täterschaft überzeugend sind.« Sie legte fünf Euro auf den Tisch und erhob sich. »Macht’s gut ihr beiden. Wir sehen uns in der Redaktion, Jo.« Mit einem Winken manövrierte sie ihren Hintern davon. Patrick hob seine Handschuhe auf, die zu Boden gefallen waren, murmelte einen Gruß und folgte ihr.
»Faszinierend, nicht?« Lara berührte Jos Hand, und er erwachte aus seiner Erstarrung und sah sie an. »Was meinst du?«
»Weibliche Rückenansichten.«
»Du hast es gemerkt. Tut mir leid. Das sind Instinkte. Ich kann nichts dafür.«
»Aber sicher doch.« Lara puffte ihn am Oberarm und wunderte sich ein wenig, dass sie keinen Funken Eifersucht in sich entdecken konnte. »Was wollen wir jetzt tun?«
»Du hast ja noch zu schreiben.« Er wartete ihr Nicken nicht ab. »Und ich muss in die Redaktion, die Fotos von der Pressekonferenz bearbeiten und ins System einspeisen. Du könntest mich dort absetzen. Heute Abend lade ich dich zum Essen ein. Der Schlachter-Fall ist bis auf ein paar Kleinigkeiten geklärt. Das könnten wir feiern.«
»Das Angebot nehme ich gern an.« Lara kramte ihre Brieftasche heraus. »Dafür bezahle ich aber jetzt.« Hoffentlich hatte Jo mit den »Kleinigkeiten« recht.
37
Patrick winkte Hubert einen Willkommensgruß zu und wickelte sich den Schal vom Hals. Die Luft in der Redaktion kam ihm übermäßig warm vor. Christin, die ein lapidares »Hallo« in die Runde genuschelt hatte, war eben in der Küche verschwunden und tauchte jetzt mit einer Flasche Mineralwasser in der Hand wieder auf.
Hubert tippte seinen Satz zu Ende, lehnte sich mit einem Seufzen zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Unter den Achseln seines hellblauen Jeanshemdes prangten zwei große Schweißflecken. »Na los, berichte schon. Du brennst ja förmlich darauf.«
Das
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