Das sechste Opfer (German Edition)
schicken Einband zu versehen und zu binden. Das Layout schien mir etwas einfallslos, aber das sollte mir eigentlich egal sein. Für solche Eitelkeiten hatte ich wirklich keine Zeit. In der folgenden Nacht stand zwar das Mail-Programm im Chef-Computer wieder, aber es war keine weitere Nachricht oder Drohung eingegangen. Was mich jedoch beunruhigte, denn ich glaubte nicht, dass sie tatsächlich so schnell aufgeben würden. Da würde mit Sicherheit noch etwas passieren. Es fragte sich nur, was.
Meine Frage wurde zwei Tage später beantwortet. Es geschah mitten am Tag und es war alles andere als subtil. Als der Feuer-Alarm losging, wusste ich sofort, was los war. Ein aufgeregter Drucker bestätigte meinen Verdacht, als er mir im Vorüberlaufen mitteilte, dass eine Bombendrohung eingegangen sei und alle das Haus verlassen müssten.
Ich eilte mit ihm zum Ausgang, doch bevor es nach draußen ging, ließ ich mich zurückfallen und lief zurück in die Räume hinter der Druckerei. Zur Poststelle. Dort standen meine Bücher. Fünftausend Exemplare, die darauf warteten, an Buchläden, Fernseh- und Radio-Redaktionen und Bibliotheken verschickt zu werden. Die meisten Bücher lagen in einem großen Stapel an der Wand, in der sich die Tür befand. Am Fenster gegenüber auf dem Packtisch befanden sich ein paar Kartons und warteten darauf, mit ihnen bestückt und in die Ferne geschickt zu werden.
Ich schloss die Tür ab und wartete darauf, was passieren würde. Dass sie das ganze Haus in die Luft sprengen würden, bezweifelte ich, das würde zu viel Aufsehen erregen, da das Haus an der befahrenen Straße lag und zu viele Todesopfer fordern würde. Es war eher wahrscheinlich, dass sie das leere Haus dazu benutzen würden, sich hierher zu schleichen und die Bücher in Brand zu stecken. Doch dann würde ich hier stehen und das verhindern.
Falls ich mich jedoch irren sollte und sie tatsächlich verzweifelt und wahnsinnig genug waren, eine riesige Explosion zu riskieren, war ich verloren. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste die Wahrheit unter die Menschen bringen, auch wenn es mein eigenes Leben kostete. Dieses Mal wirklich. Ich hockte mich auf den Boden und wartete wieder.
Aus allem, was man erlebt und macht, kann man etwas lernen. Jeder Mensch, den man trifft und mit dem man eine Art Beziehung eingeht, wie auch immer die geartet sein mag, bringt einem weitere Erkenntnisse. Jede Handlung trägt zur eigenen Entwicklung bei, ob man will oder nicht. Das Erstaunliche und auch einzig Positive an meinen dramatischen Erlebnissen war, dass ich mich in den vergangen Tagen und auch Wochen zu einem völlig anderen Menschen entwickelt hatte, hervorgerufen durch jede einzelne Aktion, die passiert war. Es schien mir, als wäre vieles, das mich vorher ausgemacht hatte, ausgelöscht und verschwunden und durch Neues ersetzt. Als hätten sich Werte, Vorstellungen und Wichtigkeiten in mir drastisch verschoben und neu justiert. Bei manchen Eigenschaften war es sicher von Vorteil, dass sie sich geändert hatten, wie ich am Beispiel meiner Ungeduld erkannte. Denn die war völlig verschwunden. Wenn ich früher kaum abwarten konnte und ganz unruhig wurde, wenn ich etwas, was mich interessierte oder beschäftigte, nicht sofort erleben oder besitzen konnte, so wurde mir in den Tagen in meinem Versteck klar, dass das Einzige, was mir weiterhelfen würde, Geduld war. Ich hatte Tage lang in dem Versteck gesessen und gewartet. Ruhig, still, entspannt.
Wie ein Jäger hatte ich den Geräuschen des Hauses gelauscht und auf meine Chance gelauert. Kein nervöses Auf- und Abgehen, keine aufgeregten Kontrollbesuche oder ungeduldige Fragen. Und jetzt brauchte ich diese Geduld wieder. Das Warten schien kein Ende zu nehmen, aber selbst der Gedanke daran rief kein innerliches Stöhnen in mir hervor. Ich hatte alle Zeit der Welt, darauf zu warten, was mit meinen Büchern passieren würde. Doch so lange dauerte es gar nicht.
Vor dem Haus auf der Straße, die abgesperrt war, sammelten sich die Mitarbeiter des Hauses, das inzwischen komplett evakuiert schien. Die Feuerwehr rückte an und die Polizei kam, um das Gelände großräumig abzusperren und sich wichtig zu machen. Ein Bombenentschärfungskommando mit Sprengstoffhunden machte sich einsatzbereit. Auch ein Notarztwagen war im Einsatz. Mich schien niemand zu vermissen.
Nach ein paar Minuten hörte ich schließlich das leise Klappern einer Tür. Ich weiß nicht, wie sie bei dem Menschenauflauf hereingekommen waren,
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