Das sechste Opfer (German Edition)
haben. Denn wenn ich etwas gelernt hatte in den vergangenen Wochen, dann war das die Erkenntnis, dass nichts so unsicher und trügerisch ist wie die Sicherheit. Ich traute unserem plötzlichen Glück nicht und beschloss, die weitere Entwicklung meines Buches persönlich zu überwachen, zumal mir Dr. Janosch auch von der gestohlenen Aktentasche berichtete. Die Kerle würden sehr bald merken, dass sie aus der Tasche statt des Manuskriptes eine aus dem Internet heruntergeladene Diplomarbeit zum Thema »Dissoziative Störungen« gezogen hatten.
Eine weitere Sache, die ich ebenfalls in der vergangenen Zeit gelernt hatte, war die Gabe, unsichtbar zu sein. Sich irgendwo aufzuhalten oder durch die Menschen zu bewegen, als wäre man gar nicht da. Es ist nicht immer einfach, aber es existieren ein paar simple Grundregeln, die es einzuhalten gilt, um nicht wahrgenommen zu werden. Man darf zum Beispiel niemanden anlächeln und vor allem niemandem in die Augen schauen. Der direkte Blickkontakt ist absolut tabu, wenn man nicht auffallen will. Man muss sich seiner Umgebung anpassen, als würde man wie ein Stück Inventar dazugehören, seine Sache durchziehen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Keine Unsicherheit zeigen, keine Zweifel, keine Irritationen. Bis man mit der Umgebung verschmilzt, ihre Atmosphäre atmet und wieder ausscheidet.
Als ich den Burg-Verlag als Reinigungskraft betrat, achtete kein Mensch auf mich. Nach Feierabend ging ich in meinem roten Pullover und dem grünen Overall, den ich mir in einem Arbeitsbekleidungsgeschäft besorgt hatte, mit zwei ebenso gekleideten Frauen in das Gebäude. Sie kannten mich nicht und sahen mich skeptisch an, aber da sie kaum Deutsch sprachen und auch mehr mit sich und ihren Geschichten, die sie sich erzählten, beschäftigt waren, ignorierten sie mich und nahmen mich einfach als neuen Kollegen hin. Sie gaben mir hin und wieder Hinweise in irgendeiner internationaler Gebärdensprache und ein paar Brocken Deutsch, wie ich den Putzlappen besser über die Monitore gleiten lassen oder den Staubsauger entleeren und auf dem Männerklo putzen könnte, aber ansonsten ließen sie mich in Ruhe. Als sie gegen Mitternacht fertig waren, ging ich mit ihnen fast bis zur Ausgangstür, bevor ich mich seitwärts in ein Büro gleiten ließ und dort wartete, bis absolute Stille im Haus herrschte.
Zwei Stunden später wagte ich mich aus meinem Versteck und ging durch die leeren Räume. Der Verlag war nicht sehr groß, er beanspruchte gerade zwei halbe Etagen in einem ehemaligen Wohnhaus für sich. Im Erdgeschoss befanden sich Druckerei und Versand, im ersten Stock saßen drei Lektoren, ein PR- und Marketing-Verantwortlicher, die Buchhaltung, die gleichzeitig auch Personalabteilung war, und der Geschäftsführer. Es gab auch ein paar Praktikanten und Assistentinnen, aber die hockten alle eng zusammen in einem einzigen Büro.
In den anderen Etagen des Hauses saßen eine Agentur für Werbung, eine Versicherung und mehrere Firmen, unter deren Namen ich mir nichts vorstellen konnte.
Was mich beim Burg-Verlag in dieser Nacht am meisten interessierte, war das Büro des Geschäftsführers. Es war zwar abgeschlossen, aber eine der Putzfrauen hatte mir den General-Schlüssel gegeben, als ich ein paar Müllbeutel in die Mülltonnen im Hof bringen sollte, und vergessen, ihn zurückzufordern, so dass ich jetzt ungehinderten Zugang zu jedem Raum hatte.
Auf dem Schreibtisch konnte ich nichts Verdächtiges finden, in der Ablage ebenfalls nicht. An den Computer kam ich leider nicht heran, da der durch ein Passwort geschützt war.
Ich sah mich in jedem Büro um. Auf dem Schreibtisch von Johannes Gerhardt fand ich schließlich ein paar Papiere zu meinem Buch, die besagten, dass es bereits graphisch aufbereitet und in der Druckvorbereitung war. Mehr nicht.
Kein Hinweis auf die Sieben Zwerge oder eine mögliche Verstrickung in deren Machenschaften. Ich fand lediglich ein paar Differenzen in der Buchhaltung, da der Buchhalter vergessen hatte, seinen Computer herunterzufahren, aber die beruhten auf dessen Fehlern und schienen keine beabsichtigten Manipulationen. Mehr konnte ich nicht entdecken und glaubte schon fast, dass das Wunder wirklich passieren könnte.
Doch das reichte mir nicht. Ich wollte sehen, wie mein Buch aus der Druckmaschine kam, gebunden und verschickt wurde. Erst dann wäre ich zufrieden. Also ging ich hinunter in die Druckerei und entdeckte, dass es sich tatsächlich schon im Computer
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