Das siebte Kreuz
Bis jetzt, das bedeutete nur einen gewissen Grad von Standhaftigkeit, nichts Endgültiges.
Frau Fiedler hatte das Öfchen angesteckt, das zum Heizen und Kochen diente. Die Bretterbude war außen sauber gestrichen und innen so ordentlich gehalten, als rechneten Fiedlers nicht mehr mit großen Umzügen. Besonders im letzten ruhigeren Jahr hatte Fiedler viel Sorgfalt an diese Laube verwandt. Frau Fiedler richtete ihm den Kaffee auf dem Klapptisch, den er selbst ausgetüftelt hatte, ein nach Bedarf zusammenlegbares Stück mit vielen Scharnieren, aus einfachem Tannenholz, aber hübsch gemasert, was Fiedler durch Hobeln und Polieren herausgeholt hatte.
Er sah durch die kleine, blanke, selbsteingekittete Scheibe hinaus durch eine lockere Hecke, an der unzählige Hagebutten glimmten, über das braune und goldene Gewoge von Büschen und Hecken auf die fernen Kirchtürme der Stadt. Wenn Röder heut nacht nichts gesagt hatte, so war es möglich, daß er morgen, ja jetzt beginnen würde. Ihm fiel die Geschichte von Melzer ein, der als braver Junge gegolten hatte. Er war drei Tage lang stumm geblieben, am vierten aber war er von seinen Peinigern im Betrieb herumgeführt worden, einer großen Druckerei, er hatte ihnen alle gezeigt, von denen er glaubte oder ahnte, daß sie verdächtig waren. Was hatten sie mit dem Melzer gemacht? Durch welches Gift, mit welchen Zangen hatten sie ihm die Seele bei lebendigem Leibe entwendet? Wenn Röder nun morgen in den Betrieb käme, gefolgt von zwei Schatten, und er bezeichnete ihnen den Fiedler? »Nein«, sagte Fiedler
laut. Sogar der erträumte Röder sträubte sich, in diesen erträumten Verrat hereingezogen zu werden.
»Was nein?« fragte Fiedlers Frau.
Fiedler schüttelte nur den Kopf mit sonderbarem Lächeln. Auf keinen Fall konnte Heisler lange da bleiben, wo er war. Man brauchte Rat und Hilfe. Hatte Fiedler nicht vor sich selbst beteuert, das ganze Jahr hindurch, daß er völlig allein sei, nicht mehr wüßte, wohin sich wenden? Es gab da höchstens vielleicht einen einzigen – gab es ihn wirklich? Obwohl dieser einzige in demselben Betrieb stand, hatte ihn Fiedler seit langem gemieden. Warum? Aus einem ganzen Gemisch von Gründen, in dem – wie immer, wenn man ein ganzes Gemisch von Gründen vorgibt – der wahre Hauptgrund fehlte. Fiedler hatte zum Beispiel geglaubt, diesen Mann zu meiden, weil er ihn nicht belasten wollte, denn diesem Mann mochten bei Pokorny wichtige Dinge obliegen. Ein anderes Mal hatte Fiedler geglaubt, denselben Mann meiden zu müssen, weil der ihn von früher kannte und unvorsichtig über ihn reden könnte. Er hatte ihn also aus zwei entgegengesetzten Gründen gemieden, aus Mißtrauen und aus höchstem Vertrauen. Jetzt aber, da es um Heisler ging, war keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt hatte er keine Minute mehr, um weiterzubrauen an diesem Gemisch von Gründen. Jetzt wußte Fiedler auf einmal, daß er den Mann nur deshalb gemieden hatte, weil es bei diesem Mann, wenn er einmal vor ihm saß, kein Entrinnen mehr gab. Da stellte es sich endgültig heraus, ob er, Fiedler, für immer wegbleiben wollte, sich zurückziehen von allen und allem, oder weiter dazugehören. Auch dieser Mann besaß auf seine Art die Kraft, dem Menschen das Innerste zu entwinden.
Der Mann – er hieß Reinhardt –, dem Fiedler so viel zutraute, lag im halbdunklen Zimmer auf seinem Bett, den Sonntag auskostend. Er horchte schläfrig auf die Geräusche in seiner Wohnung. Seine Frau fütterte in der Küche das Enkelkind; denn die Tochter war weg mit »Kraft durch Freude« auf irgendeinem Winzerfest. Er hatte sehr jung geheiratet. Sein Haar war mißfarben grau, ob es auch eben erst zu ergrauen anfing oder längst war, und durchbeizt von Metallstaub. In seinem hageren, alterlosen Gesicht war nichts Besonderes zu entdecken, wenn man nicht in den Blickbereich seiner Augen geriet, und auch dann nur, wenn etwas am Menschen die Aufmerksamkeit dieser Augen erregte. Dann glänzten sie auf in einem Gemisch aus Güte, Mißtrauen, und auch aus Spottlust und aus Hoffnung auf einen neuen Freund.
Jetzt hatte er, wenn auch schon lange wach, seine Augen geschlossen. Noch eine Minute, dann mußte er aufstehen. Diesmal war es nichts mit dem Sonntag. Er mußte versuchen, den Mann zu finden, an den er schon eine Stunde dachte. Wenn der Mann nicht auf einem Werkausflug war! Reinhardt kannte zwar selbst den kleinen Röder vom Ansehen, von dem ihm Hermann erzählt hatte; aber es war
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