Das siebte Kreuz
unmöglich, daß er selbst an ihn herantrat, soviel aufs Spiel setzte, in diesem Halbdunkel von Gerüchten und Vermutungen. Da war der Mann, an den er gerade dachte, der Richtige, um den Röder auszuhorchen.
Vielleicht war alles Erfindung. Man nannte zwar Namen und Orte. Man hatte auch ein paar Straßen durchgekämmt, ein paar Wohnungen durchsucht. Vielleicht benutzte man nur dieses Fluchtgerücht zu ein paar Verhaftungen, zu ein paar Stichproben. Seit gestern schwieg sich das Radio aus. Vielleicht war Heisler schon gefangen. Nur in den Gerüchten der Menschen jagte er noch in der Stadt herum, verbarg sich in erfundenen Schlupfwinkeln, entkam immer wieder durch unzählige Listen, ein allen gemeinsamer Traum. Ihm, Reinhardt, erschien eine solche Lösung höchstwahrscheinlich. Dann war der gelbe Umschlag, den Hermann ihm ausgehändigt hatte, für diesen gespenstigen Georg bestimmt. Ein entliehener Paß für einen Schatten. In solchen Zeiten, in denen das Leben der Menschen eingegrenzt war zum Ersticken, war alles möglich im Bereich der Wünsche und Träume. Die letzte Minute Sonntagsmorgenruhe war abgelaufen. Er setzte die Füße seufzend auf den Boden. Er mußte sofort zu diesem Mann aus Röders Abteilung, der noch herausfinden konnte, was Fleisch und Blut an dieser Geschichte war. Er, Reinhardt, mußte damit rechnen, daß diese Fluchtgeschichte in Luft zerrann, und gleichzeitig mußte er sie so ernst nehmen, daß kein Augenblick zu verlieren war. Auch Hermann, sein liebster Freund, hatte trotz aller Zweifel sofort genauso gehandelt, als ob kein Zweifel möglich sei. Er hatte sich von der ersten Minute an um Geld und Papiere gekümmert. Reinhardts Augen glänzten auf bei dem Gedanken an Hermann: ein Mensch, der einem die Kraft abgibt, nicht bloß eine Menge sehr schwerer Dinge zu tun, sondern auch die Kraft, eine Menge sehr schwerer Dinge vielleicht nutzlos zu tun. Das Grau seiner Augen wurde stumpfer, als er dann an den Mann dachte, zu dem er jetzt gehen mußte, dieser Mann aus Röders Abteilung. Er runzelte die Stirn. Zwar könnte ihm dieser Mann eine Auskunft über den Röder geben. Er war ja schon jahrelang mit ihm bei Pokorny. Er würde auch schweigen über den Frager. Doch was darüber hinausging, da würde der Mann wohl zögern, wie er seit langem zögerte. Und Reinhardt hatte ihn gut beobachtet. Ob es ihm heute morgen gelingen würde, den verängstigten, eingeschüchterten Menschen aus sich herauszutreiben?
Er setzte sich aufsein Bett und zog seine Socken an. Es schellte an der Flurtür. Nur jetzt keine Störung, denn Montag konnte es schon zu spät sein, er mußte heut und sogleich fort. Seine Frau steckte den Kopf herein, Besuch sei gekommen. »Ich bin’s«, sagte Fiedler im Eintreten. Reinhardt zog seinen Laden hoch, um den Besucher zu erkennen. Jetzt fühlte Fiedler dieselben Augen auf sich gerichtet, vor denen er sich ein Jahr lang gefürchtet hatte. Und doch war es Reinhardt, der seine Augen zuerst niederschlug und ganz bestürzt und verlegen sagte: »Du, Fiedler! Ich wollt dich eben besuchen.« – »Und ich«, sagte Fiedler bereits ganz ruhig und befreit, »ich hab mich entschlossen, zu dir zu gehen. Ich bin da in eine Lage geraten, in eine Lage, in der ich mich jemand anvertrauen muß. Nur weiß ich nicht, ob du begreifst, warum ich solang wegblieb.«
Reinhardt versicherte rasch, daß er alles begreife. Als ob es an ihm sei, sich zu entschuldigen, erzählte er eine entlegene Geschichte aus dem Jahr 23. Er hätte in der Gegend von Bielefeld gestanden bei Einzug des Generals Watter, und damals sei ihm der Schreck so in die Glieder gefahren, daß er sich wochenlang versteckt hätte. Zuletzt, als der Schreck schon vorbei war, aus Scham und aus Ärger über den Schreck.
Nachdem ihm also der andere von selbst die ganze Erklärung seines Verhaltens erspart hatte, erzählte Fiedler sofort ausführlich, was ihn herführte. Reinhardt horchte still. Der schroffe Ton, in dem er ein paarmal dazwischenfragte, widersprach seinen Zügen. Sie zeigten den Ausdruck eines Mannes, der endlich wieder leibhaftig vor sich sieht, was ihm im Leben das Wichtigste ist, worauf er alles gesetzt hat, wovon er ahnt, daß es immer besteht, doch oft ist es bis zur Erschöpfung entfernt, bis zur Zweifelhaftigkeit vor ihm versteckt, jetzt aber ist es vor ihm, ja sogar zu ihm gekommen.
Reinhardt, nachdem er alles erfahren hatte, stand auf und ließ Fiedler zwei Minuten allein, so daß dieser seinerseits Zeit
Weitere Kostenlose Bücher