Das siebte Kreuz
beruhigen möchte; die Sache, um die es hier ging, sei nur zufällig eine Woche lang auf den Namen Georg getauft.
Georg wandte sich plötzlich ganz heiter an seinen Gastgeber, wie alt er sei und von welchem Fach. Er sei vierunddreißig, sagte Kreß. Sein Fach sei die physikalische Chemie. Georg fragte, was das sei. Kreß versuchte, gleichfalls erleichtert, etwas davon zu erklären. Georg hörte zuerst aufmerksam zu, dann dachte er wieder an den Paul, wie der blutete, und an die Liesel, wie die wartete. Kreß deutete Georgs Schweigen in seiner Weise. »Jetzt war noch Zeit zu allem«, sagte er leise. »Zeit wozu?« – »Um von hier fortzukommen.« – »Haben wir uns nicht entschlossen, zu bleiben? Denken Sie nicht mehr daran.« Doch Georg selbst konnte nichts anderes denken. Er stand auf und wühlte in den Büchern. Zwei oder drei waren ihm bekannt aus seiner mit Franz gemeinsam verbrachten Zeit. Diese Zeit war in seinem Leben die froheste gewesen. Doch die stillen und einfachen Tage waren versteckt unter den aufdringlichen Erinnerungen bewegterer Jahre. Warum vergißt man das Wichtigste, dachte Georg. Weil es sich nicht absetzt und nicht außerhalb von einem bleibt, sondern lautlos in einen eingeht. Georg wandte sich an die Frau und fragte sie unvermittelt nach ihrer Herkunft und ihrer Kindheit. Sie fuhr leicht zusammen, was Kreß noch nie an ihr erlebt hatte. Sie begann auch sofort zu erzählen: »Mein Vater war sehr jung in die Armee gekommen. Er hatte keine besonderen Fähigkeiten, so daß er als ganz junger Major abging mit vierundvierzig. Wir waren daheim vier Brüder und ich, so daß er uns plagen konnte, bis wir erwachsen waren.« – »Und Ihre Mutter?« Georg kam nicht dazu, von der Mutter mehr zu erfahren, weil ein Auto so nah hielt, daß allen dreien der Atem stockte. Das Auto fuhr ab, und die Lust zum Sprechen war allen vergangen. Georg dachte wieder an Paul, er bat es ihm ab, daß er eben erschrocken war, als sei er wie Kreß auf alle Möglichkeiten gefaßt. Und doch fuhr er kurz darauf bei dem nächsten Auto genauso zusammen. Sie sprachen jetzt nichts mehr, während die Nacht unendlich langsam dahinging und sich das Zimmer mit Rauch füllte.
Siebentes Kapitel
1
Es war noch fast Nacht; man merkte gerade, daß Felder und Dächer auch ohne Mondlicht weiß blieben, weil sie bereift waren, da stapfte von der Kronberger Seite her ein winziges Weibchen mit einem Sack auf dem Rücken gegen die Landstraße. Der Sack und ein knubbliger Aststock gaben ihr etwas Hexenhaftes, wie sie da plötzlich vor Tag in den Feldern auftauchte, vor sich hin brabbelnd und herumäugelnd. Diese Hexigkeit verminderte sich in der Nähe, da der Sack ein gewöhnlicher Rucksack war. ihre Kleidung aus einem gewöhnlichen Lodenmantel bestand, mit einem Hasenpelzchen und einem garnierten Sonntagshütchen, das sie über ihr alltägliches Kopftuch gedrückt hatte.
Kurz vor Mangolds Gehöft hüpfte sie über den Chausseegraben, bückte sich über das Feld, als ob sie dort etwas witterte, brabbelte ärgerlich, hüpfte wieder zurück und stieg die Straße hinauf bis zu Messers Haus. In Messers Küchenfenster zu ebener Erde brannte schon Licht – das erste Licht rundum. Warmer Streuselkuchen zum Sonntagskaffee gebührte den guten Söhnen des Hauses. Und den mißratenen? Denen erst recht, meinte Eugenie, damit die zarten, süßen Butterstreusel sie gütiger stimmen.
Die alte Frau hüpfte über den Graben, aber nicht gegen das Küchenfenster, sondern tiefer hinein in Messers Feld. Einen Augenblick bückte sie sich, dann ging sie ohne Zögern in das Wäldchen auf demselben Weg, den die Herde gestern genommen hatte. Denn sie war die Mutter von Ernst dem Schäfer, den sie feiertags stundenweise bei seinem Hirtenamt zu vertreten pflegte, und der Schafsdreck auf Messers Wiese zeigte ihr, wo sie gestern geweidet hatte. Sie kannte die Tour. Heute mußten sie schon bei Prokaskis sein, an der Gemeinde Mamolsberg.
Wie sie durch das Wäldchen herauskam auf das Gelände, das der Messer im Frühjahr an den Prokaski verhandelt hatte, damit deren Hof unter der Erbhofgrenze bleibe, sah sie das flache, gelbe Hotel unten rechts an der Kronberger Straße liegen, an einer einzelnen Gruppe bereifter Tannen. Weich und sacht fallen die Felder ab, aber nur, um jenseits der Straße, ebenso weich und sacht, wieder anzusteigen, und der Blick läuft nicht aus, sondern hält vor dem Buchenwald auf der höchsten, keine zwei
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