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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Stunden entfernten Hügelkette. Wenn die Sonne aufgeht, wird das große runde Tal in allen Herbstfarben leuchten. Jetzt vor Tagesanbruch ist das alles eine fahle, bereifte Welt. Der Mond ist so blaß, daß man ihn suchen muß. Ernsts Mutter, wie sie den grauweißen Abhang herunterstapft, wirft nicht den kleinsten Schatten.
     
    Plötzlich bleibt sie stehen. Zweihundert Schritte von ihr entfernt läuft ein Mädchen über das freie Stück zwischen den einzelnen losen Tannengrüppchen und dem Waldstreifen. Ernsts Mutter vergißt einen Augenblick, daß ihr Sonntagsbesuch dem Sohn gilt und nicht mehr dem Vater; so ein davonstiebendes Mädchen hat ihr von jeher besser als aller Schafsdreck die Richtung angegeben. Sie kräht los in die fahle Dämmerung mit ihrem hellen Stimmchen:
     
    »He, Fräulein!«
     
    Das Mädchen bleibt stehen, bald zu Tode erschrocken. Sieht sich um und um; weit und breit ist alles still und grau. Ernsts Mutter kommt den Berg herunter hinter ihrem Rücken. »He, Fräulein.« Sie erschrickt zum zweitenmal. »Fräulein, Sie haben was liegenlassen!« – »Wo – was?« – »So ein kleines, blondes Härchen.« Doch das Mädchen hat sich schon gefaßt, sie ist rund und fest, sie ist nicht besonders schreckhaft. »Na, dann legen Sie sich’s in Ihr Gebetbuch.« Die Alte lacht oder hustet. Das Mädchen streckt noch seine große, dralle Zunge raus, dann läuft es weg.
     
    Droben scheint der Mond nochmals aufzuquellen, er wird deutlicher, weil der Himmel blaut. Jetzt dämmert’s dem Mädchen, wer die alte Frau gewesen sein mag, ihr wird ganz übel vor Ärger. In den Dörfern fängt es an zu läuten. Wie hat sie sich denn mit so einem einlassen können! Wie der Ernst hinter dem eigenen Haus war mit seinen Schafen, hat sie sich zusammengenommen. Wo er schon weg ist, an der Mamolsberger Seite, läuft sie plötzlich zu ihm hinüber! Gott, o Gott! Diese Alte, seine Mutter, wird sie schön ins Gerede bringen! Aber schließlich bringt die alte Hexe jedes brave Mädchen ins Gerede. Hat sie nicht sogar das Mariechen aus Botzenbach ins Gerede gebracht? Das Mariechen, ein Kind von Fünfzehn, an den Schmiedtheimer SS-Messer versprochen, der bestimmt nichts nimmt, woran was ist? Wie sie aus dem Wäldchen heraus ist, vor Eugenies Küchenfenster, fühlt sie sich schon so stolz und schwermütig, wie ein Mädchen, das unschuldig ins Gerede kommt.
     
    Sie klopft. »Heil Hitler! Eugenie, wo du doch schon am Backen bist, leih mir ein Spitzchen von einer Vanillestange, wenn du kannst.«
     
    »Eine ganze Stange, Sophie, nicht nur ein Spitzchen.« Die Eugenie hält sich von allen Zutaten einen kleinen, reinlichen Vorrat in ihren blanken Gläschen. »Du bist mein erster Gast, Sophie«, sagte sie und bringt die Vanillestange und auf der Kuchenschaufel eine Schnitte fast heißen Streuselkuchen.
     
    Mit einem zuckrigen Mund, einem einwandfreien Streuselkuchen-Alibi, springt die Sophie Mangold über die Straße in ihre eigene Küche, in der die Mutter schon Kaffee mahlt.
     
    Die Nacht war also vorbeigegangen. Beide Männer waren zusammengezuckt, sobald ein Auto aus der Riederwaldsiedlung heraufgekommen war oder nur die Schritte einer nächtlichen Streife, und immer stärker zusammengezuckt und nachhaltiger, als ob ihre Körper im Lauf dieser Nacht an Schwere verloren hätten.
     
    Als die Frau die Läden zurückschlug und sich nach dem hellen Zimmer zurückdrehte, erscheinen ihre beiden Männer gealtert und abgemagert, ihr eigener und der fremde. Sie schauderte leicht zusammen. Sie warf einen Blick auf den flachen Nickelfuß der Lampe, ihr eigenes Gesicht war unversehrt, ein wenig blaß in den Lippen. »Die Nacht ist zu Ende!« erklärte sie, »ich für mein Teil, ich werde jetzt baden, ein Sonntagskleid anziehn.« – »Und ich Kaffee kochen«, sagte Kreß, »und Sie, Georg?«
     
    Er bekam keine Antwort. Als man das Fenster geöffnet hatte, und die frische Morgenluft war hereingeströmt, da hatte es Georg überwältigt, halb Schlaf, halb Erschöpfung. Kreß trat an den Stuhl heran, in dem Georg zusammengesunken war, die Stirn auf der Tischkante. Weil die Kante übers Gesicht schnitt, nahm Kreß den Kopf und drehte ihn um. In einem Winkel seines Herzens erhob sich die Frage, wie lange er, Kreß, noch diesen Gast beherbergen müßte. Er herrschte diesen Teil seines Ichs an, zu schweigen, das eine solche Frage zu stellen wagte. Du irrst dich, sagte er zu sich selbst, ich würde auch seine Leiche im Haus behalten.
     
    Georg

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