Das siebte Kreuz
gewann, sich des vollzogenen Schrittes klarzuwerden, der so leicht und so schwer gewesen war. Dann kam Reinhardt zurück; er legte einen Umschlag vor ihn hin. Der starke gelbe Umschlag enthielt die Papiere auf den Namen des Neffen eines holländischen Schleppdampferkapitäns, der die Fahrt von und nach Mainz gewöhnlich mit seinem Onkel machte. Diesmal war er zur rechten Zeit in Bingen erreicht worden, um Papiere und Paß dem andern abzutreten, da er selbst noch einen gewöhnlichen Grenzpassierschein in der Tasche hatte. Und das Paßbild war mit zartester Hand den Steckbriefbildern angepaßt.
In dem Paß lagen ein paar Geldscheine. Reinhardt strich den Umschlag mit der Schmalseite seiner Hand so flach wie möglich; eine Bewegung, die ebenso nützlich wie zärtlich war. In dem Umschlag steckte gefährliche, mühselige Kleinarbeit, steckten unzählige Wege, Erkundungen, Listen, die Arbeit vergangener Jahre, alte Freundschaften und Verbindungen, der Verband der Seeleute und Hafenarbeiter, dieses Netz über Meere und Flüsse. Aber das Leben dessen, der jetzt seine Finger an dem Netz hatte, war eng und schwer, und die paar Scheine stellten in diesen Zeiten ein Heidengeld dar, den Notbestand der Kasse der Bezirksleitung für besondere Fälle.
Fiedler steckte den Umschlag ein. »Wirst du ihn selbst hinbringen?« – »Nein, meine Frau.« – »Ist die denn gut?« – »Vielleicht besser als ich.«
Blind vom Weinen nach der durchwachten Nacht hatte die Liesel Röder die Kinder gefüttert und angezogen. »Es ist doch Sonntag«, sagte der älteste Junge, wie sie mit Brot anstatt mit Brötchen ankam. Sonntags pflegte Paul vom Bäcker über der Straße die warmen Brötchen zu holen. Liesel fing bei dieser Erinnerung neu zu weinen an, und die Kinder kauten und tunkten verschreckt und beleidigt.
Also, der Paul ist nicht heimgekommen, das gemeinsame Leben hat aufgehört. Nach dem Schluchzen, das Liesel schüttelt, muß das Leben mit dem verlorengegangenen Paul unvergleichlich gewesen sein. Liesel hat ihre ganze Kraft hineingesteckt, nicht in die Zukunft, nicht einmal in die Zukunft der Kinder, sondern in dieses gegenwärtige, gemeinsame Leben. Wie sie mit dick geschwollenen Augen auf die Straße hinuntersah, ohne zu sehen, haßte sie jeden, der an diesem Leben zu rütteln gewagt hatte, sei’s mit Verfolgungen, Drohungen, sei’s mit Versprechungen von etwas Besserem, Zukünftigem.
Ihre Kinder am Tisch waren fertig mit Trinken, aber sie blieben merkwürdig still.
Ob sie ihn schlagen? fragte sich Liesel. Ihr eigenes zerstörtes Leben sah sie vor sich mit allen Folgen und allen Einzelheiten. Doch das zerstörte Leben des anderen war schwerer zu sehen, auch wenn der andere der Paul war. – Wenn sie ihn so lange schlagen werden, bis er gestanden hat, wo der Georg ist? Wenn er gesteht, kann er dann heimgehen? Kann er dann einfach sofort heimgehen? Kann dann alles so sein, wie es vorher war?
Liesel stockte in ihren Gedanken. Auch ihre Tränen stockten. Eine Ahnung fiel auf ihr Herz, daß selbst das Weiterdenken verboten war. Nichts könnte mehr wie vorher sein. Liesel verstand sich sonst auf nichts anderes als auf ihr eigenes rundes Leben. Sie verstand gar nichts von dem Schatten hinter den Grenzpfählen der Wirklichkeit, und erst recht nichts von den seltsamen Vorgängen, die sich zwischen den Grenzpfählen abspielen: wenn die Wirklichkeit in das Nichts entgleitet und nie mehr zurückkann oder die Schatten sich zurückdrängen möchten, um noch ein einziges Mal für wirklich zu gelten.
Doch in diesem Augenblick verstand auch die Liesel, was eine Scheinwelt sein kann, ein fälschlich zurückgekehrter Paul, der kein Paul mehr ist, eine Familie, die dann auch keine Familie mehr sein kann, ein gemeinsames Leben Jahre hindurch, das schon längst in einer Oktobernacht in dem Keller der Gestapo durch ein paar Worte Geständnis aufgehört hat, ein Leben zu sein.
Liesel schüttelte den Kopf, sie wandte sich vom Fenster ab. Sie setzte sich zu den Rindern aufs Küchensofa. Den ältesten Buben hieß sie die schmutzigen Strümpfe gegen die frischen wechseln, die auf der Herdstange getrocknet waren. Sie setzte das Mädchen auf ihre Knie und nähte ihm einen Knopf fest.
3
Mettenheimer sagte sich zwar, daß er immer weiter bespitzelt sei, doch er fühlte bei diesem Gedanken nicht mehr die alte Furcht. Sollen sie mich beobachten, sagte er sich mit einer Art von Stolz, nun, dann
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