Das siebte Kreuz
grünen Büschen, auf einem Spielplatz vielleicht oder in einem Garten bewegte sich undeutlich eine Schaukel auf und ab. Georg dachte: Ich muß jetzt noch mal von vorn anfangen, alles durchdenken. Zunächst, soll ich wirklich raus aus der Stadt, wozu nützt mir das? Dieses Dorf – ach, Botzenbach – hieß es. Diese Leute – ach, Schmitthammer hießen sie. Sind sie sicher? Sicher – keineswegs. Und selbst wenn sie es wären, was weiter? Wie soll ich überhaupt weiterkommen? Über die Grenze ohne Hilfe, da kann ich tausendmal aufgegriffen werden. Mein Geld ist bald alle. Ohne Geld, wie bisher, mich durchzuschlagen von Zufall zu Zufall, dafür bin ich jetzt schon zu schwach. Hier in der Stadt kenn ich doch Menschen. Gut, ein Mädchen hat mich nicht aufgenommen. Was besagt das schon? Es muß noch andere geben. Meine Familie, Mutter, Bruder? Unmöglich - alle bewacht. Elli, die mich damals besucht hat. Unmöglich – sicher bewacht. Werner, der mit mir im Lager war? Auch bewacht. Der Pfarrer Seitz, der Werner geholfen haben soll, als er rauskam – unmöglich, höchstwahrscheinlich bewacht. Wer kann von Freunden noch da sein?
In der Zeit vor seiner Haft, in dem Leben vor dem Tod, hatte es Menschen gegeben, auf die man sich felsenfest verlassen konnte. Franz war darunter gewesen, aber Franz war weit weg, glaubte Georg. Er hielt sich doch einen Augenblick bei ihm auf. Verschwendung bei den Minuten, die er zum Nachdenken Zeit hatte. Es war schon ein Trost, sich zu sagen, daß es immerhin wo einen Menschen gab, wie er ihn jetzt gebraucht hätte. Wenn es ihn gab, war sein Alleinsein nur Zufall. Ja, Franz war der Rechte gewesen. Die andern aber? Er wog sie ab, einen nach dem andern. Das Abwägen war erstaunlich einfach; verblüffend rasch die erste Aussonderung, als sei die Gefahr, in der er sich jetzt befand, eine Art von chemischem Mittel, das untrüglich die geheime Zusammensetzung jedes Stoffes enthüllte, aus dem ein Mensch gemacht ist. Ein paar Dutzend Menschen gingen durch seinen Kopf, die wohl gerade ihr Handwerk ausübten, in einem Essen herumstocherten. Ahnungslos, auf welche furchtbare Waage sie in diesem Augenblick gelegt wurden. Ein Jüngstes Gericht, ohne Posaunenstöße, an einem hellen Herbstmorgen. Georg ließ schließlich vier gelten.
Bei jedem der vier, glaubte er fest, könnte er Unterkunft finden. Wie zu ihnen kommen? Er hatte plötzlich die Vorstellung, im selben Augenblick seien Wachen vor die vier Türen gestellt worden. Ich darf nicht selbst hin, sagte er sich. Ein anderer muß für mich hingehen. Ein anderer, auf den niemand verfallen kann, der gar nichts mit mir zu tun hat und doch alles für mich tut. Er fing von neuem an, alle durchzuhecheln. Er kam sich von neuem allein vor, als sei er nie von Eltern geboren, mit Brüdern aufgewachsen, als hätte er nie mit anderen Knaben gespielt – mit Genossen gekämpft. Ganze Schwärme Gesichter, alte und junge, flogen durch seinen Kopf. Er spähte erschöpft in dieses Gestöber, das er heraufbeschworen hatte, halb Gefolgschaft, halb Meute. Auf einmal entdeckte er ein Gesicht, ganz bespritzelt von Sommersprossen, weder alt noch jung; denn wirklich, das Paulchen Röder hatte in der Schulbank wie ein Männlein ausgesehen und bei seiner Trauung wie ein Konfirmandenbub. Sie hatten sich als Zwölfjährige ihren ersten Fußball halb ergaunert, halb erarbeitet. Sie waren unzertrennlich gewesen, bis – bis andere Gedanken, Freundschaften anderer Ordnung Georgs Leben bestimmt hatten. Das ganze Jahr, das er mit Franz zusammen gelebt hatte, war er ein Schuldgefühl gegen den kleinen Röder nicht losgeworden. Er hatte Franz nie erklären können, warum er sich schämte, daß er Gedanken verstand, die Röder niemals verstehen würde. Er hätte manchmal wieder einschrumpfen mögen und alles verlernen, um seinem kleinen Schulfreund gleichzubleiben. Ein wirrer Knäuel von Erinnerungen, aus dem dann rasch ein einzelner glatter Faden wurde. Ich will um vier nach Bockenheim. Ich will zu den Röders.
4
Es ist jetzt Mittag. Auf seinem neuen Gebiet jenseits der Landstraße hat Ernst der Schäfer weniger Mühe, aber auch weniger Fernblick. Die Schafe bleiben besser zusammen. Die Felder der Messers grenzen nach unten zu an die Landstraße. Hinter der Landstraße verstellen die Höfe von Mangolds und Marnets dem Ernst die Sicht. Oben grenzen die Felder an einen langen Zipfel Buchenwald. Auch der Zipfel gehört den Messers. Er ist von dem großen
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