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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Berechnung. Entweder war er gar nicht er selbst oder … Er spürte auf den Schläfen die Zugluft eisig und schneidend, als sei die Drei in eine andere Zone eingefahren. Er war sicher längst beobachtet. Warum sollte gerade er gerade Füllgrabe treffen? Wahrscheinlich hatten sie Füllgrabe schon an der Leine geführt. Füllgrabes Blick, seine Bewegungen, sein angebliches Vorhaben – so beträgt sich nur ein Verrückter oder ein Mann, der an der Leine geführt wird. Warum hat man mich da nicht gleich gepackt? Sehr einfach – weil man warten will, wohin ich gehe. Man will sehen, wer mich aufnimmt.
     
    Da fing er auch schon an zu suchen, wer der Verfolger sein müßte. Der Mann mit Bärtchen und Brille, der wie ein Lehrer aussah? – Der Bursche im blauen Monteurkittel? – Der Alte, der ein ganzes Bäumchen, sorgfältig verpackt, vielleicht in sein Gärtchen hinausfuhr?
     
    In den letzten Sekunden hatte sich aus dem Lärm der Stadt eine Marschmusik abgesondert. – Sie kam rasch näher und wurde stärker, wobei sie allen Geräuschen und allen Bewegungen ihren scharfen Takt aufzwang. Die Fenster öffneten sich, aus den Toren liefen Kinder, auf einmal war die Straße von Menschen gesäumt – der Fahrer bremste. Das Pflaster zitterte schon. Man hörte schon jubeln vom Ende der Straße her. Seit ein paar Wochen war das 66er Infanterieregiment in den neuen Kasernen stationiert. Wenn es durch ein Stück Stadt marschierte, dann war das immer ein frischer Empfang. Da kommen sie endlich: Trompeter und Trommler, der Tambour wirft seinen Stab, das Pferdchen tänzelt. Da sind sie! Da sind sie! Endlich – die Menschen reißen die Arme hoch. Der Alte schwingt seinen Arm und stützt mit dem Knie sein Bäumchen. Seine Brauen zucken im Takt des Marsches. Seine Augen glänzen. Hat er seinen Sohn dazwischen? Das ist der Marsch, der die Menschen aufwühlt, daß es ihnen den Rücken herunterläuft, daß ihre Augen leuchten. Was für ein Zauber ist das, zu gleichen Teilen gemischt aus uralter Erinnerung und vollkommenem Vergessen? Man könnte glauben, der letzte Krieg, in den dieses Volk geführt wurde, sei das glücklichste Unternehmen gewesen und hätte nur Freude gebracht und Wohlstand. Frauen und Mädchen lächeln, als hätten sie unverwundbare Söhne und Liebste. Wie die Jungen den Schritt schon gelernt haben in den paar Wochen – Mütter, die ängstlich und mit Recht bei jedem Pfennig »wofür« fragen, werden, solange man diesen Marsch aufspielt, die Söhne hergeben und Stücke ihrer Söhne. Wofür? Wofür? Das werden sie sachte fragen, wenn die Musik verhallt ist. Dann wird der Fahrer wieder ankurbeln, der Alte wird merken, daß an seinem Baum ein Zweiglein geknickt ist, er wird knurren. Der Spitzel, wenn wirklich einer dabei war, wird zusammenfahren.
     
    Denn Georg ist von der Plattform herunter. Er ist nach Bockenheim zu Fuß hinein. Paul wohnte in der Brunnengasse 12. Das hatten weder Schläge noch Tritte aus seinem Kopf geschüttelt – nicht mal den Namen seiner Frau: Liesel, geborene Enders.
     
    In den letzten Minuten war er sehr schnell und sicher, ohne sich umzusehen, losgegangen. Er blieb in einer Gasse stehen, die auf die Brunnengasse mündete, vor einem Schaufenster, um sich auszuschnaufen. Wie er sich da im Spiegel erblickte hinter der Auslage, mußte er sich an der Querstange festhalten. – Wie er weiß im Gesicht war, der Mann, der mit einer Hand nach der Querstange griff – dieser gelbliche fremde Mantel, der ihn schleppte – ihn und seinen Kopf mit dem steifen Hut!
     
    Darf ich denn zu Röders hinaufgehen? – fragte er sich.
     
    Was berechtigt mich denn zu glauben, daß ich den Schatten los bin, falls ich beschattet war. Und der Paul Röder – warum soll denn gerade er alles gerade für mich riskieren? Wieso war ich denn vorhin auf der Bank?
     
     
     

5
     
    Im dritten Stock links war Röders Name auf ein Stückchen Karton gemalt, fein und genau, in einem wappenähnlichen Kreis. Georg lehnte sich an die Wand, er starrte den Namen an, als hätte er hellblaue Äugelchen und Sommersprossen, kurze Arme und Beine, Vernunft und Herz. Wie er das Schildchen mit seinem Blick verzehrte, wurde ihm auch bewußt, daß der kräftige, recht gemischte Lärm, den er schon unten gehört hatte, gerade aus dieser Wohnung kam. Er hörte das Aufundabrollen eines Kinderspielzeugs, ein Kind rief die Stationen aus, ein anderes rief: »Einsteigen!«, dazu surrte die Nähmaschine, und über alles hinweg schallte der Gesang

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