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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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hab sie später mal besucht. Wie hießen die Leute? Mein Gott, wie hieß bloß das Dorf? Mein Gott, wie hießen die Leute? Ich hab ja alles vergessen. Wie heißt bloß das Dorf? - Ich will hin. Ich kann mich dort ausschnaufen. So alte Leute, die wissen von nichts. Ihr lieben Leute, wie habt ihr geheißen? Ich muß mich dort bei euch ausschnaufen. Mein Gott, die Namen sind weg - Er sprang auf die Dreiundzwanzig. Auf jeden Fall muß ich raus. Ich darf nicht ganz bis zur Endstation. Die Endstationen sind immer bewacht. Er hatte sich eine liegengebliebene Zeitung aufgegriffen. Er faltete sie auseinander, um sein Gesicht zu verstecken. Die Überschriften sprangen ihn an und hie und dort ein Satz und Bild.
     
    Elektrisch geladene Stacheldrähte, Postenketten und Maschinengewehre hatten nie hindern können, daß die Geschehnisse der äußeren Welt nach Westhofen eindrangen. Die Art von Menschen, die man in Westhofen einsperrte, brachte es mit sich, daß dort über viele entlegene Ereignisse wenn nicht mehr, so doch klarer Bescheid gewußt wurde, als in vielen zerstreuten Dörfern des Landes, in vielen Wohnungen. Durch ein Naturgesetz, durch einen geheimen Kreislauf schien dies Häuflein geketteter, elender Menschen mit den Brennpunkten der Welt verbunden. Als deshalb Georg auf die Zeitung sah – der vierte Morgen seiner Flucht fiel in jene Oktoberwoche, da in Spanien um Teruel gekämpft wurde und die japanischen Truppen in China eindrangen –, dachte er flüchtig, doch ohne stark überrascht zu sein: So war das also. Das waren die Überschriften der alten Geschichten, die ihm das Herz erschüttert hatten. Jetzt gab es für ihn nur den Augenblick. Als er die Seite umschlug, fiel sein Blick auf drei Bildervierecke. Sie waren quälend bekannt. Er sah rasch wieder weg. Die Bilder blieben vor seinen Blicken stehen: Füllgrabe, Aldinger und er selbst. Er faltete seine Zeitung ganz rasch und ganz klein zusammen. Er steckte sie ein. Er sah kurz nach rechts und nach links. Ein alter Mann, der neben ihm stand, sah ihn an - haarscharf, wie ihm dünkte. Georg sprang plötzlich ab.
     
    Ich will lieber nicht mehr aufsteigen, sagte er sich, man ist eingesperrt im Wagen. Ich will zu Fuß raus. Er lief über die Hauptwache, er griff sich ans Herz, da gab’s einen Knacks, lief aber gleich wieder ordentlich. Er lief auch gleichmäßig weiter, ohne Furcht, ohne Hoffnung. Was ist bloß mit meinem Kopf? Ich bin ja verloren, wenn mir das Dorf nicht einfällt, und wenn es mir einfällt, bin ich vielleicht erst recht verloren. Die wissen vielleicht dort schon alles, wollen nichts riskieren. Er lief am Museum vorbei über einen kleinen Straßenmarkt. Er lief durch die Eschenheimer Gasse, vorbei an der Frankfurter Zeitung. Er lief bis zum Eschenheimer Turm, er überquerte die Straße, er lief jetzt rascher, weil das Gefühl der Bedrohung, durch die ganze Haut durch, seit Minuten zunahm. Aus seinem Gehirn löste sich ein einzelner Gedanke: ich bin beobachtet. Er spürte jetzt keine Furcht, war eher ruhiger, erleichtert, weil der Feind sichtbar wurde. Er fühlte im Nacken, als ob seine Haut desto feiner fühlte, je dumpfer sein Kopf war, ein Augenpaar, das ihn von der kleinen Straßeninsel aus unter dem Turm unablässig verfolgte. Er lief, statt den Schienen nachzugehen, ein Stück in die Anlage. Plötzlich blieb er stehen. Es zwang ihn einfach, sich umzudrehen. Ein Mann trat aus der Gruppe Menschen an der Haltestelle vor dem Turm, er ging zu Georg hinüber. Sie grinsten sich an, sie schüttelten sich die Hände. Der Mann war Füllgrabe – der fünfte der sieben Flüchtlinge. Er sah so adrett aus wie eine Schaufensterpuppe. Was war Bellonis gelber Mantel, damit verglichen? Wie? Füllgrabe hatte doch geschworen, er käme nie zurück in die Stadt. Weiß der Teufel, warum er sich nicht daran hielt. Er hatte sich immer ein Hintertürchen offengehalten. Sie standen noch immer, als könnten sie ihre Begrüßung nicht abschließen, Gesicht zu Gesicht, mit steifen Ellenbogen. Schließlich sagte Georg: »Gehen wir da hinein.« Sie setzten sich auf eine sonnige Bank ins Grüne. Füllgrabe schabte den Sand mit seiner Schuhspitze. Seine Schuhe waren ebenso fein wie sein Anzug. Wie der sich rasch alles verschafft hat, dachte Georg.
     
    Füllgrabe sagte: »Weißt du, wo ich grad hinfahren wollte?« – »Na?« – »Mainzer Landstraße!« – »Warum?« sagte Georg. Er zog seinen Mantel zusammen, damit er nicht mit Füllgrabes Mantel in Berührung kam. Ist

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