Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
Vom Netzwerk:
heut nicht geschnappt wirst, wirst du es morgen, und kein Hahn wird nach dir krähen. Bürschchen! Bürschchen! Diese Welt hat sich ein ganz klein bißchen verändert. Kein Hahn kräht mehr nach uns. Komm – geh mit mir. Das ist das aller-, aller-, allerschlaueste. Das ist das einzige, was uns rettet. Komm, Georg.«
     
    »Du bist vollkommen verrückt.« – Bis jetzt waren sie auf der Bank allein gesessen. Jetzt setzte sich eine Frau in Schwesternhaube auf das freie Ende. Sie schuckelte sacht und geübt mit einem Arm den Kinderwagen. Mächtiger Kinderwagen voll Kissen und Spitzen und hellblauen Bändern und einem winzigen, schlafenden Kind, das offenbar noch nicht tief genug schlief. Sie stellte den Kinderwagen schräg gegen die Sonne, nahm ein Nähzeug vor. Sie warf einen raschen Blick auf die beiden Männer. Sie war, was man resolut nennt, weder alt noch jung, weder schön noch häßlich. Füllgrabe gab ihren Blick zurück, nicht nur mit den Augen, sondern mit einem mißratenen Lächeln; mit einem furchtbaren, krampfhaften Zusammenziehen seines ganzen Gesichts. Georg sah das, es wurde ihm ganz flau. »Komm!« sagte Füllgrabe. Er stand auf. Georg packte ihn am Arm. Füllgrabe riß sich los mit einer Bewegung, die heftiger war als die Bewegung, mit der ihn Georg zurückhielt, so daß sein Arm Georg ins Gesicht fuhr. Füllgrabe beugte sich über Georg und sagte: »Wem nicht zu raten ist, Georg, dem ist nicht zu helfen. Adieu, Georg.« – »Nein, halt noch mal«, sagte Georg. Füllgrabe setzte sich wirklich noch einmal. Georg sagte: »Mach doch so was nicht, so was Wahnsinniges! Selbst in die Falle rein! Aber du wirst ja ganz rasch kaputtgehen. Aber die haben doch noch nie Mitleid gehabt. Aber auf die macht doch gar nichts Eindruck. Aber Füllgrabe, aber Füllgrabe!« Dicht an Georg gerückt, sagte Füllgrabe in ganz verändertem, traurigem Ton: »Lieber, lieber Georg, komm! Du warst doch immer ein anständiger Mensch. Komm doch mit mir. Das ist doch gräßlich, allein dort hinzugehen.«
     
    Georg sah ihm in den Mund, aus dem die Worte herauskamen, zwischen einzelnen Zähnen, die durch die Lücken zu groß aussahen, die Zähne eines Schädels. Seine Tage waren gewiß gezählt. Wahrscheinlich sogar seine Stunden. Er ist ja schon wahnsinnig, dachte Georg. Er wünschte von Herzen, Füllgrabe möchte rasch fortgehen und ihn zurücklassen, allein und gesund. Wahrscheinlich hatte Füllgrabe im selben Augenblick dasselbe über Georg gedacht. Er sah Georg bestürzt an, als ob er erst jetzt gewahr werde, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Er stand auf und lief weg. Er war so rasch hinter den Büschen verschwunden, daß Georg das Gefühl ankam, er hätte diese Begegnung nur geträumt.
     
    Dann überraschte ihn ein Anfall von Furcht, so jäh und wild wie in der ersten Stunde, als er am Rande des Lagers in einem Weidengestrüpp hing. Ein kaltes Fieber, das ihm mit ein paar raschen Stößen Leib und Seele erschütterte. Ein Anfall von drei Minuten, doch von der Sorte, die einem das Haar grau färbt. Und damals war er in Sträflingskleidern gewesen, die Sirenen hatten geheult, jetzt war es schlimmer. Der Tod war ihm ebenso nahe, aber nicht im Rücken, sondern überall. Er war unentrinnbar, er spürte ihn körperlich – als sei der Tod selbst etwas Lebendes, wie auf den alten Bildern, ein Geschöpf, das sich hinter das Asternbeet duckt, oder hinter den Kinderwagen, und hervortreten und ihn berühren kann. Plötzlich war der Anfall vorbei. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, als hätte er einen Kampf überstanden. Das hatte er auch, obwohl er selbst glaubte, nur gelitten zu haben. Was war das eben mit mir gewesen? Was hat man mir eben erzählt: Kann das wahr sein, Wallau, daß sie dich haben? Was machen sie mit dir? Ruhig. Georg. Glaubst du, du wirst woanders geschont?
     
    Wärst du nach Spanien, wenn du gekonnt hättest? Glaubst du, man schont uns dort? Meinst du, in einem
    Stacheldraht hängen, meinst du, ein Bauchschuß wäre besser? Und diese Stadt, die sich heute fürchtet, dich aufzunehmen – wenn es vom Himmel Granaten regnet, hat sie sich ausgefürchtet. Aber Wallau, ich bin allein, so allein ist man nicht in Spanien, nicht einmal in Westhofen. So allein wie ich, ist man nirgends. – Ruhig, Georg. Du hast eine Menge guter Gesellschaft. Etwas verstreut im Augenblick, das macht nichts. Haufenweis Gesellschaft – Tote und Lebende.
     
    Hinter dem großen Asternbeet, hinter dem Rasen, hinter den braunen und

Weitere Kostenlose Bücher