Das siebte Tor
sie benutzt, denn
der Raum, in dem sie standen, war leer.
Leer, bis auf die grausigen Trophäen des
Ungeheuers.
Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung
waren an den Wänden angekettet. Männer und Frauen und Kinder – alle unter
Schmerzen und Qualen gestorben. Hugh Mordhand, der Assassine, Handlanger des
Todes, fühlte, wie ihm Übelkeit die Kehle zuschnürte. Er beugte sich vor und
würgte.
Die schiere Brutalität, die sinnlose Grausamkeit
erschütterten sogar Marit. Entsetzen und brennende Wut auf eine Kreatur, die
imstande war, zu ihrem Vergnügen derartige Taten zu begehen, drohten sie zu
überwältigen. Die Höhle verschwamm vor ihren Augen. Sie fühlte sich benommen,
schwindelig und hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Hastig tat sie einen Schritt
nach vorn, um durch die Bewegung den Bann zu brechen.
»Alfred!« Hugh richtete sich auf und deutete mit
der ausgestreckten Hand in die Dunkelheit.
Tatsächlich entdeckte Marit die schmächtige
Gestalt des Sartan zwischen den Toten. Er war am Leben, aber sie hätten nicht
später kommen dürfen, nach seinem Aussehen zu urteilen.
»Geh zu ihm«, sagte Hugh mit rauher Stimme. »Ich
passe auf.« Er hielt den Todesdolch in der Faust. Die Klinge verströmte ein
kränkliches grünes Licht.
Marit lief zu der Stelle, wo Alfred wie die
zahllosen übrigen Opfer in Ketten an der Wand hing. Sein Kopf war auf die
Brust gesunken. Man hätte ihn für tot halten können, aber er atmetete, wenn
auch mühsam und rasselnd. Sie mußte vorsichtig sein, um ihn nicht zu
erschrecken, doch als sie behutsam mit den Fingerspitzen seine Wange berührte,
stöhnte Alfred, bäumte sich auf, und seine Ketten klirrten.
Marit hielt ihm den Mund zu, hob seinen Kopf an
und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie wagte nicht, laut zu sprechen, und
ein Flüstern nahm er in seinem Zustand vermutlich gar nicht wahr.
Er starrte sie aus glasigen, hervorquellenden
Augen an, in denen sich kein Erkennen spiegelte, nur Angst und Schmerzen.
Instinktiv wehrte er sich gegen ihre Hand, war aber viel zu schwach, um sich zu
befreien. Seine Kleider waren mit Blut getränkt. Blut bildete Lachen unter
seinen Füßen, aber sein Körper – soweit Marit sehen konnte – war unverletzt.
Der Drache hatte seinem Opfer tiefe Wunden zugefügt,
um sie anschließend wieder zu heilen. Wahrscheinlich viele Male. Der Verstand
hatte am meisten gelitten Alfred befand sich auf der Schwelle zum Wahnsinn.
»Hugh!« Sie mußte das Risiko eingehen, seinen Namen
zu rufen, und obwohl es kaum mehr als ein lautes Flüstern war, hallte ihre
Stimme unheimlich durch die Felsengrotte. Ein zweites Mal zu rufen wagte sie
nicht.
Hugh tat ein paar Schritte in ihre Richtung,
ohne den Blick von der Öffnung abzuwenden. »Ich glaube, ich habe gehört, wie
sich da drinnen etwas bewegt. Du solltest dich beeilen.«
Und genau das war unmöglich!
»Wenn ich ihn nicht heile«, erklärte sie leise,
»stirbt er uns unter den Händen. Er erkennt mich nicht einmal.«
Hugh schaute Alfred an, dann Marit. Er hatte die
Heiler der Patryn bei der Arbeit beobachtet; er wußte, wie sie vorgingen. Marit
mußte ihre gesamten magischen Kräfte auf Alfred konzentrieren, seine Qualen und
Schmerzen absorbieren und ihre lebensspendende Energie in ihn einströmen
lassen. Das hieß, sie war eine geraume Zeit außer Gefecht gesetzt und nach dem
Heilungsprozeß ebenso schwach und hilflos wie Alfred.
Der Assassine gab mit einem Nicken zu verstehen,
daß er begriffen hatte, dann kehrte er auf seinen Posten zurück.
Marit berührte die Handschellen, mit denen
Alfred an den Felsen gekettet war, und sprach mit gedämpfter Stimme die Runen.
Blaue Feuerschlangen wanden sich um ihren Arm, die Fesseln sprangen auf, und
Alfred sank zu Boden. Er hatte das Bewußtsein verloren.
Rasch kniete Marit neben ihm nieder, ergriff
seine Hände – die rechte mit ihrer linken, die linke mit ihrer rechten –,
schloß den Kreis und beschwor die heilenden Kräfte.
Eine Folge fantastischer, herrlicher,
wunderbarer und erschreckender Bilder drang in ihr Bewußtsein. Sie befand sich
hoch über Abri, sehr hoch; es war, als schaute sie vom Gipfel eines Berges auf
die Stadt tief unten hinab. Und dann sprang sie von dem Berggipfel und fiel –
aber nein, sie fiel nicht. Sie schwebte in der Luft, getragen von unsichtbaren
Strömungen wie ein Schwimmer im Ozean. Sie flog.
Die Erfahrung machte ihr angst, bis sie sich
daran gewöhnt hatte.
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