Das siebte Tor
Über den Himmel, eben noch grau in
grau, sickerte ein fahles, rötliches Glühen.
Die Runen auf Marits Haut machten sich nur
schwach bemerkbar. Kein Feind befand sich in der Nähe. Und doch schwand ihre
Hoffnung um so mehr, je weiter der rote Schimmer sich ausbreitete.
Sie schloß resigniert die Augen.
Einmal hatte es eine Hoffnung gegeben. Ihr Kind.
Ihres und Haplos. Ein Mädchen. Ihr Name – Reue. Sie zählte jetzt acht Tore,
und Marit konnte sie vor sich sehen mager und knochig, groß für ihr Alter, mit
dem braunen Haar der Mutter und dem ruhigen Lächeln des Vaters…
»He!«
Marit schrak auf. Hughs Hand lag auf ihrer
Schulter, er hatte sie festgehalten, als sie umzusinken drohte.
Sie errötete tief. »Tut mir leid. Ich muß
eingenickt sein.« Schwerfällig stand sie auf und rieb sich die brennenden
Augen. Die Versuchung war groß, zu glauben, daß der Traum eine Bedeutung hatte.
Daß er ihr sagen wollte: Haplo lebt. Er kommt zurück. Gemeinsam wird es uns
gelingen, unser Kind zu finden.
Ärgerlich schüttelte sie die weiche Stimmung ab.
Ein Traum, ermahnte sie sich streng. Nichts weiter. Was geschehen ist, läßt
sich nicht rückgängig machen. Ich habe mein Recht auf Glück verscherzt.
»Wie bitte?« Alfred setzte sich auf. »Was hast
du gesagt? Etwas über Haplo?«
Hatte sie wirklich laut gesprochen? Vielleicht –
sie war so müde, daß sie nicht mehr wußte, was sie tat.
»Wir machen uns besser auf den Weg«, meinte sie
ausweichend.
Während Alfred mühsam aufstand, schaute er sie
mit einem seltsam forschenden Blick an. »Wo ist Haplo? Ich habe ihn mit Fürst
Xar gesehen. Sind sie in Abri?«
Marit wandte das Gesicht ab. »Nicht in Abri. In
Abarrach.«
»Abarrach… Die Kunst der Nekromantie…« Alfred
sank erschüttert auf einen umgestürzten Baumstamm. »Er ist der Versuchung
erlegen.« Er seufzte. »Dann ist Haplo tot.«
»Du lügst!« Marit fuhr zu ihm herum. »Mein
Gebieter würde ihn nicht sterben lassen!«
»Wollen wir wetten?« Hugh Mordhand lachte kurz
auf. »Du selbst wurdest ausgesandt, um Haplo zu ermorden von deinem Gebieter!«
»Weil er glaubte, Haplo wäre ein Verräter!«
Marit ballte die Hände zu Fäusten. »Jetzt weiß Fürst Xar, daß er von den
Drachenschlangen verleumdet wurde. Xar wird Haplo nicht sterben lassen!
Niemals!«
Sie war so erschöpft, daß sie zu schluchzen
anfing wie ein verängstigtes Kind. Verlegen rang sie um Beherrschung, aber der
Schmerz in ihrer Brust war zu groß. Die innerliche Leere, die sie so lange
gehegt und gepflegt hatte, füllte sich plötzlich mit einer brennenden Qual,
die nur Tränen lindern konnten. Sie hörte Alfred zögernd näher kommen und
drehte ihm abrupt den Rücken zu.
Die Schritte verstummten.
Schließlich gewann Marit ihre Fassung wieder und
wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie fühlte sich zerschlagen wie nach
einer großen körperlichen Anstrengung.
Hugh Mordhand starrte finster auf den Boden und
stieß mit dem Fuß nach einem Grasbüschel. Alfred saß vornübergebeugt da, die
Hände zwischen den spitzen Knien, und ließ gedankenversunken den Kopf hängen.
»Es tut mir leid.« Ihr Tonfall war gewollt
barsch. »Ich bin müde, weiter nichts. Wir sollten endlich weitergehen…«
»Marit«, unterbrach Alfred sie schüchtern, »auf
welchem Weg ist Fürst Xar ins Labyrinth gelangt?«
»Ich weiß es nicht. Er hat nichts darüber
gesagt. Ist das wichtig?«
Alfred runzelte die Stirn. »Der Vortex. Er muß
gewußt haben, daß wir dorther gekommen sind. Von dir, nehme ich an?«
Marits Wangen brannten. Unwillkürlich fuhr ihre
Hand zur Stirn, um das Mal zu berühren, das Xar ihr einst als Zeichen der
Verbundenheit eintätowiert hatte, um es auf der Walstatt von Abri wieder zu
zerstören. Als sie merkte, daß Alfred sie beobachtete, ließ sie die Hand
schnell wieder sinken.
»Aber der Vortex ist zerstört…«
»Er kann nicht zerstört werden«, widersprach
Alfred. »Der Berg ist eingestürzt und versperrt den Zugang. Hineinzukommen wird
nicht leicht sein, aber möglich wäre es. Wie auch immer…«Er legte nachdenklich
den Finger an die Lippen.
»Auf dem Weg kann er nicht fliehen!« rief Marit.
»Das Tor öffnet sich nur in einer Richtung – das hast du zu Haplo gesagt!«
»Vorausgesetzt, Freund Alfred ist bei der
Wahrheit geblieben«, knurrte Hugh Mordhand. »Denk dran, er war
derjenige, der nicht gehen wollte!«
»Ich habe die Wahrheit gesagt.« Alfred stieg das
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