Das siebte Tor
Straßen gepflastert und eben, die Häuser fest gebaut
und solide. Erst jetzt, im Schein des Feuers, das alles zerstörte, kam ihr die
filigrane Anmut der hohen Türme zu Bewußtsein, die harmonische Schlichtheit
der Anlage. Vor ihren Augen wankte einer der Türme und stürzte funkenstiebend
in sich zusammen. Eine Rauchwolke stieg aus den Trümmern.
Die Verzweiflung schnürte Marit die Kehle zu.
Fürst Xar hätte das nicht zugelassen! Entweder war er nicht hier, oder er war
tot.
»Seht!« rief Vasu plötzlich. »Das Letzte Tor! Es
ist noch offen! Die Unseren halten es!«
Marit wandte den Blick von dem Inferno der
brennenden Stadt ab und bemühte sich, trotz Qualm und Dunkelheit etwas zu
erkennen. Die Drachen flogen langsamer, beschrieben eine Kehre und ließen sich
in einer weiten Spirale zur Erde sinken.
Die Patryn unten hoben die Köpfe. Noch war die
Entfernung zu groß, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern erkennen zu können,
doch ihre Reaktionen verrieten, was sie dachten. Das Auftauchen einer riesigen
Schar geflügelter Kreaturen konnte nur eins bedeuten – den Untergang.
Vasu, der ahnte, wie es in den Herzen seiner
Landsleute aussah, begann zu singen; seine Stimme tönte laut und klar durch
die Rauchschwaden und die von Flammen erhellte Finsternis.
Marit verstand die Worte nicht, doch sie fühlte,
wie sich ein schwarzer Schatten von ihrer Seele hob. Der Würgegriff der Angst,
den sie an ihrer Kehle gespürt hatte, lockerte sich und ließ sie freier atmen.
Die Hoffnungslosigkeit auf den Gesichtern der
Patryn wich freudigem Staunen. Zahllose Stimmen nahmen Vasus Lied auf,
Jubelrufe und Kriegsgesänge stiegen aus den Reihen empor. Die Drachen schwebten
dicht über dem Boden und erlaubten ihren Reitern abzuspringen, bevor sie sich
wieder in die Höhe schwangen. Einige hielten kreisend am Himmel Wache, andere
flogen davon, um Kundschafterdienste zu leisten oder um weitere Patryn aus dem
Innern des Labyrinths auf das Schlachtfeld zu bringen.
Auf der Grenze zwischen dem Labyrinth und dem Nexus
erhob sich eine mit Sartanrunen bedeckte Mauer Runen, die die Macht besaßen,
jeden zu töten, der sie berührte. Die Mauer war ein imposantes Bauwerk. In
einem unregelmäßigen Halbkreis erstreckte sie sich von einem Gebirgsmassiv zum
anderen. Auf beiden Seiten der Mauer erstreckte sich Niemandsland. Hier
versprach die Stadt des Nexus Freiheit und Leben, dort die schwarzen Wälder des
Labyrinths den Tod.
Jeder Bewohner des Labyrinths, dem es nach
unsäglichen Mühen gelungen war, bis in Sichtweite des Letzten Tores zu
gelangen, sah sich hier der schwersten Prüfung von allen gegenüber. Das
Niemandsland war eine baum- und strauchlose Ebene, die keine Deckung bot. Noch
einmal konnte das Labyrinth alle Schrecken aufbieten, um die Flucht seiner
Gefangenen zu vereiteln. Auf dieser Ebene hatte Marit fast den Tod gefunden.
Auf dieser Ebene hatte ihr Gebieter sie gerettet.
Vom Rücken ihres Drachen aus ließ Marit den
Blick über das Heer der erschöpften, blutenden Patryn wandern und suchte nach
Xar. Er mußte hier sein! Die Mauer stand, das Tor hielt. Nur ihr Gebieter
verfügte über derartige starke Magie.
Doch falls er sich in der Menge befand, konnte
sie ihn nirgends entdecken.
Die Patryn am Boden wichen zurück, als die
beiden Drachen mit Marit und Vasu landeten. Sie blieben, während ihre Vettern
in die Lüfte und zu ihren Pflichten zurückkehrten.
Das Heulen der Wolfsmänner tönte aus dem Wald,
untermalt von den nervenzermürbenden schnalzenden Geräuschen, mit denen die
Chaodyn sich auf einen Kampf einzustimmen pflegten. Rote Drachen in großer
Anzahl flogen durch die Rauchschwaden, aber sie griffen nicht an. Der
Widerschein der brennenden Stadt verlieh ihren Schuppen düsteren Glanz. Zu
ihrer Überraschung sah Marit keine Spur von den Schlangen, doch sie wußte, die
Kreaturen befanden sich in der Nähe – die Runen auf ihrer Haut leuchteten
beinahe so hell wie das Feuer.
Die Patryn aus Abri sammelten sich und warteten
schweigend auf Befehle von ihrem Obmann – Vasu hatte sich aufgemacht, um mit
den Patryn am Tor zu sprechen. Marit begleitete ihn, in der Hoffnung, Fürst
Xar doch noch zu finden. Sie kamen an Alfred vorbei, der unglücklich auf die
Mauer starrte und die Hände rang.
»Wir haben dieses entsetzliche Gefängnis geschaffen«,
sagte er leise vor sich hin. »Es ist unser Werk!« Er schüttelte den Kopf. »Wie
sollen wir das je rechtfertigen?
Weitere Kostenlose Bücher