Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
sich über das Deck. Obwohl das Holz durchnässt war, fing es sofort Feuer.
Dann ertönte ein schauerliches Knirschen, und das Schiff neigte sich zur Seite. »Wir sind auf ein Riff aufgelaufen!«, schrie der Maat.
Iru gelang es, sich von den Segelplanen zu befreien, indem er das regenschwere Tuch mit seinem Schwert zerteilte. Wie durch ein Wunder war er weder durch die Trümmer noch durch den Blitzschlag verletzt worden. Entsetzt sah er das Chaos, das sich an Bord der Lethis ausbreitete.
Das Schiff erbebte, die Planken ächzten und quietschten, als wollten sie gegen die ungeheuren Kräfte protestieren, die auf sie einwirkten. Die Matrosen wankten schreiend umher oder klammerten sich an die Taue. Keiner von ihnen befolgte noch Befehle. Plötzlich lösten sich die Bohlen des Decks aus den Fugen und wurden emporgeschleudert. Eine breite Wasserfontäne schoss aus der Mitte des Rumpfes. Abermals neigte sich die Lethis auf einer gewaltigen Welle zur Seite. Tarik verlor den sicheren Stand und fiel nach hinten – über die Reling. Iru schnellte vor, um ihn zu fassen, doch das Tau um seine Hüfte riss ihn heftig zurück, er prallte der Länge nach auf das Deck. Seine Hände griffen ins Leere, streckten sich vergebens nach Tarik aus. Die Zeit verlangsamte sich in seiner Wahrnehmung unendlich.
Tarik, der Kapitän der Lethis, sein treuer Freund und Weggefährte, fiel. Unaufhaltsam. Unerreichbar. Dann schlossen sich die tosenden Wellen um ihn.
Irus verzweifelter Schrei wurde vom Krachen des Donners erstickt. Während das Schiff auseinanderbarst, senkte sich gnädige Dunkelheit um ihn.
2
Die Acheron, das Flaggschiff der Flotte des Todesfürsten, lag schwer wie ein Berg im Wasser. Die Wellen brachen sich an ihrem Rumpf und erzeugten doch nur ein leichtes Schaukeln, das an Bord kaum wahrnehmbar war. Die Acheron gehörte zu einer Gattung von Schiffen, die ehrfürchtig Dronth-Brecher und »Schrecken der Meere« genannt wurden. Es waren gewaltige Schlachtschiffe. Allein ihre Ausmaße waren ehrfurchtgebietend: Der Rumpf übertraf den eines gewöhnlichen Schiffes um das Vierfache an Höhe und Breite, und die vier Masten ragten wie übergroße Bäume gen Himmel.
In der Admiralskajüte hing die Finsternis wie ein schwarzer Schleier, kaum erhellt vom Schimmer einer Kerzen flamme.
Ein einzelner Gredow-Krieger stand in respektvoll gebückter Haltung, die Faust zum Gruß an die Rüstung gedrückt. Er hatte den Helm abgenommen und unter den rechten Arm geklemmt, sodass sein abstoßendes Gesicht deutlich sichtbar war. Sein Kopf war gänzlich kahl und von vernarbter Haut umspannt, die sich an manchen Stellen zu Schwarten und Verformungen wölbte. Zwei tiefliegende rote Augen huschten ängstlich hinüber zu der massigen Gestalt des Admirals der Flotte,Drynn Dur. Dessen Silhouette war im schwachen Licht kaum zu erkennen. Er stand in wuchtigen Metallstiefeln abgewandt an einem der schmalen Fenster der Kajüte, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und starrte hinaus auf die schäumende See – ein Diener des Todes.
Obwohl die Krieger des Todesfürsten unerschrocken, grausam und wild waren, kannten sie Furcht: Furcht vor den Wutausbrüchen Drynn Durs. Er bestrafte Misserfolge nur allzu schnell. Und er war bekannt dafür, Überbringer schlechter Nachrichten mit dem Streich seines Breitschwerts ins Reich der Schatten zu befördern. Doch diesmal hatte der Gredow kaum Anlass zur Furcht, das Schicksal seiner unzähligen Vorgänger zu teilen.
»Was gibt es?« Die tiefe, kehlige Stimme der Gestalt am Fenster ließ die Holzbohlen erbeben.
Der Gredow-Krieger entspannte sich ein wenig. »Die Lethis ist soeben gesunken, Herr.«
»Das ist eine gute Nachricht.« Drynn Dur drehte sich nicht um, aber der Gredow hielt weiterhin den Blick ehrerbietig zu Boden gesenkt.
»Schickt Boote und Schiffe zu der Stelle, an der die Lethis vermutet wird. Der Sturm wird nachlassen, sobald ich meinen Meister davon in Kenntnis gesetzt habe. Lasst die Spürtrupps frei, damit sie den Meeresgrund nach dem Meledos-Kristall absuchen. Du wirst mir persönlich Bericht erstatten, wenn der Stein in unserem Besitz ist.«
Der Gredow salutierte, setzte den Kampfhelm auf und verließ die Kabine, froh, der dunklen Präsenz des Admirals zu entkommen.
3
Der Wind trieb den Regen wie einen grauen Vorhang vor sich her. Die heftigen Schauer hatten die Wege und Straßen schon längst in matschige Striche braunen Lehms verwandelt, die ein Fortkommen fast unmöglich machten. Sie
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