Das Siegel der Macht
Vater«, stieß Gerbert ironisch hervor. »Auf Eurem Weg zum doppelten Thron war Otto natürlich ein Hindernis. Um Euch auch die Kaiserkrone aufzusetzen, musstet Ihr sein junges Leben zerstören.«
Erschrocken fixierte Alexius den Gelehrten, ließ den Blick zu Gregor wandern. Der Papst musste sich festhalten. Er war kreidebleich und fühlte sich schwach. Fragend waren seine graublauen Augen auf Gerbert gerichtet, aber er gab keine Antwort.
Gerbert seufzte. »Glücklicherweise ist Euer Plan nicht aufgegangen, Otto hat seine schwere Krankheit überlebt. Aber das mindert Eure Schuld nicht. Ihr habt den Kaiser mit einem gefährlichen Leiden anstecken lassen!«
»Nein«, schrie Gregor. »Nein. Otto hatte das Fieber.«
»Ihr lügt! Wie könntet Ihr Papst-Kaiser werden, solange Otto auf seinem Thron sitzt? Nein, Voraussetzung für die Verwirklichung Eures verrückten Planes ist Ottos Tod. Da Ihr zehn Jahre älter seid als der Kaiser, hättet Ihr niemals nach seinem natürlichen Tod die Nachfolge antreten können. Daher ist meine Schlussfolgerung logisch. Ihr habt versucht, ihn zu vergiften.«
»Ihr irrt Euch, Gerbert. Es war anders. Hört zu!« Der Papst ließ sich fallen und blieb auf einer Treppenstufe sitzen. Gespannt kniete der Gelehrte sich neben ihn.
»Es war am Hoftag in Quedlinburg«, keuchte Gregor. »Wir sind einem Eremiten begegnet, einem heiligen Mann, der Todkranke wieder zum Leben erweckt hat.« Der Papst schnappte nach Luft, sein Herz schlug wie rasend. »Der Heilige hat den Knaben Otto weggeschickt und vor mir und meinem Freund Amizzo eine Prophezeiung ausgesprochen.«
»Welche?« Gerberts Frage kam tonlos über die Lippen.
»Der König wird als zarter Jüngling sterben, hat der Eremit gesagt.«
Gerbert schüttelte den Kopf. »Das erfindet Ihr jetzt.«
Verzweifelt schlug Gregor die Hände vor das Gesicht und schluchzte, suchte fieberhaft nach Erklärungen. Plötzlich fühlte er neue Kraft in sich und sprang auf. »Kommt mit mir«, sagte er. »Mein treuer Freund Amizzo wird alles bezeugen. Er hat die Prophezeiung auch gehört.«
Gregor winkte einen Diener herbei und schickte nach Amizzo. Nirgends konnte man den Gefolgsmann finden. Schließlich rief der Papst den Befehlshaber der Wachleute zu sich.
»Amizzo ist mit ungefähr fünfzehn Bewaffneten abgereist«, berichtete dieser. »Er hat einige …«
»Wann?«, fiel Gerbert ihm ins Wort. »Wann ist er aufgebrochen?«
»Heute Morgen, ganz unvermittelt.«
»Hat er gesagt wohin?«
»Nein, keine Erklärung. Nur nervöses Geschrei. Er hat mich fast über den Haufen gerannt.«
Auf Gerberts Geheiß ließ Papst Gregor alle Krieger und Wachleute rufen. »Weiß jemand, wohin Amizzo gereist ist?«, fragte er in die Runde.
Ein Soldat meldete sich. »Ich glaube, ich kenne das Ziel. Eigentlich sollte auch ich mitgehen, wurde aber in letzter Minute abkommandiert. Der Marschbefehl war schon gegeben.«
»So sprich doch!« Der sonst geduldige Gerbert konnte sich nicht mehr beherrschen und schrie fast.
»Nach Serperi und zum Kloster Monte Cassino.«
Gregor verstand und zuckte zusammen. »Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte er, als Gerbert und Alexius ihm wieder allein in der Audienzhalle gegenüberstanden. »Wir haben gestern Abend lange miteinander gesprochen, Amizzo war verzweifelt …« Beschwörend schwoll die Stimme des Papstes an. »Amizzo möchte das Schicksal erzwingen. Das Leben des Kaisers ist in Gefahr! Schickt sofort Eure schnellsten Panzerreiter nach Serperi. Vielleicht könnt Ihr Amizzo noch aufhalten, bevor es zu spät ist.«
Gerbert wollte sich abwenden.
»Nein«, schrie der Papst unbeherrscht. »Ihr könnt mich nicht allein lassen. Der junge Missus wird gehen.«
32
Die Begegnung mit dem Eremiten Nilus war überwältigend. Wie neugeboren fühlte sich der Kaiser, als sie Gaeta hinter sich ließen und nach Serperi ritten. Das letzte Wegstück legten sie zu Fuß zurück. Otto trug Büßerkleidung, ging mitten im Winter barfuß. Das schmerzende Gestein riss die Haut auf und tat seiner Seele wohl.
»Die Zelte Israels in der Wüste«, rief der Kaiser begeistert, als er die baufälligen Dächer über Pfählen von weitem sah.
Nilus und seine Schüler blickten dem Kaiser misstrauisch entgegen. Sie legten keinen Wert auf ihre Behausung, waren nur Pilger auf Erden. Ihre wahre Heimat war das Himmelreich.
Demütig warf Otto sich vor dem uralten Asketen auf die Knie und presste Tränen heraus. »Heiliger Nilus …«, begann er.
Der Eremit
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