Das Siegel der Macht
nicht an die Fortuna?«
Ungläubig fixierte der Bischof von Lüttich die Gesprächsrunde. Die gelassenen Gesichter brachten ihn noch mehr auf. Er verlor die Beherrschung, sprang auf und riss in seiner Wut eine Schüssel mit sich, die auf den Steinboden krachte. Notker kümmerte sich nicht um die Suppenspritzer auf seinem Rock.
»Superbia, die Überheblichkeit Gott gegenüber, ist die schlimmste Sünde«, kreischte er. »Ihr habt dem Teufel Herz und Ohr geöffnet. Wollt Ihr unseren Herrscher mit Euch in die Hölle reißen?« Ein Blick auf den Kaiser zeigte Notker, dass er zu weit gegangen war. Er fiel auf die Knie und flüsterte: »Ich wollte nur sagen, dass Gerbert nicht mit dem Feuer spielen sollte. Wer Satan den kleinen Finger gibt, den packt dieser bei der Hand.«
»Kommt, Notker.« Otto nahm den Bischof bei den Armen und half ihm auf. »Setzt Euch! Wir diskutieren doch nur.« Als der Prälat wieder neben ihm saß und sich den Schweiß von der rot glühenden Stirn abgerieben hatte, fuhr der Kaiser sanfter fort: »So sagt uns wenigstens, weshalb Euch der Gedanke an die Fortuna so aufbringt.«
»Weil Gott allmächtig ist. Er allein lenkt immer und überall.«
»Nein«, hörte Otto sich selber sagen. »Gerbert hat Recht. Es muss die Fortuna geben, denn in der Welt regieren Kräfte, die mit Gottes Güte nicht vereinbar sind.«
»Gott gibt alle Macht, aber nicht alles Wollen«, antwortete der Bischof von Lüttich mit zittriger Stimme. »Der böse Wille kommt nicht von ihm, da er wider die von Gott geschaffene Natur ist.«
»Ihr widersprecht Euch selbst«, warf Gerbert ein. »Wenn Gott alles lenkt, so muss auch der böse Wille von ihm sein.«
»Nein. Gott hat den bösen Willen nicht geschaffen, nur zugelassen. Der vom Herrn geschaffene Satan ist durch eigene Kraft böse geworden.«
»Ihr kennt Euren Augustinus. Aber sagt mir, weshalb hat Gott das Böse zugelassen?«
Notker ging nicht auf die Frage ein: »Gott hat, als er den Teufel schuf, dessen künftige Bosheit vorausgesehen.«
»Warum hat er das Böse dann nicht verhindert?«, fragte Otto.
»Weil Gott bereits wusste, wie ihm der gefallene Engel nützlich sein konnte.«
»Das Böse kann dienen?« Otto war ehrlich verblüfft.
»Ja, die Versuchungen Satans machen die Heiligen heiliger, weil sie ihnen widerstehen.«
Gerbert lächelte. »Aber die Ursache des Bösen, lieber Notker? Hat Satan sich selbst oder hat Gott das Böse geschaffen?«
Der Bischof von Lüttich verstrickte sich in seine Gedanken. Er senkte den Blick und sagte leise: »Ich kenne die Ursache des bösen Willens nicht. Das hieße das Dunkle sehen, die Stille hören wollen.«
»Also doch Fortuna«, lachte Gerbert. »Das Schicksal bewirkt, dass beim einen Menschen der gute Wille versagt und beim anderen nicht …«
»… denn Gott in seiner Barmherzigkeit kann nicht die einen zum Guten und die anderen zum Bösen vorbestimmt haben«, beendete der Kaiser das Gespräch. Seine Wangen waren gerötet, er strahlte den Gelehrten aus Reims an. Es kümmerte ihn nicht, dass der Bischof von Lüttich sich als Erster erhob und grußlos aus der Speisehalle stürzte.
Spät in der Nacht wurde Otto durch einen Albtraum aus dem Schlaf geschreckt. Angstgedanken jagten ihm durch den Kopf, umklammerten seine Brust. Er konnte sich nicht mehr entspannen. Resigniert stand der Kaiser auf, um barfuß in die Kapelle zu gehen. Er warf sich auf den Steinboden und betete. Herr, du hast mich zum Herrscher gemacht. Gib mir die Kraft, Feinde von Freunden zu unterscheiden!
Die Knie taten ihm weh. Otto rieb die nackte Haut am Boden, bis sie aufgescheuert war. Im Schmerz fand er Trost, die Augenlider wurden wieder schwerer. Er stand auf und ging zum Fenster, beobachtete die Sterne. Sie gaben keine Antwort.
Unruhig stieg der Kaiser ins Freie hinunter und atmete zwischen den Zypressen den Duft von Rosmarin und Thymian ein. Neben einem blühenden Strauch wäre er fast mit Gerbert zusammengestoßen.
»Auch Ihr könnt nicht schlafen.« In der banalen Bemerkung schwang Hoffnung mit.
»Morgen muss ich den wandernden Hof verlassen und den Weg nach Reims einschlagen.«
»Ich weiß. Deshalb finde ich keine Ruhe. Gerbert, ich habe außer Euch keine verlässlichen Freunde mehr. Wer wird mich künftig beraten?«
»Der Kaiser ist gesalbt. Außerdem seid Ihr jetzt sechzehn Jahre alt und könnt Euch ein eigenes Urteil bilden.«
»Sagt mir, was ich tun soll.« Otto sprach leise, fast flehend.
»Passt auf Euren Vetter auf«, sagte
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