Das Siegel der Macht
Seite. Nach einem Blick auf die satten Kornfelder blieb er unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen. Als die Tür aufging, drehte der Grieche sich um und fixierte die kostbar gekleidete Gestalt, die mit kleinen Schritten auf ihn zukam. Elana, die domina der Fallsteinburg. Hinter ihr glitt eine gebeugte Frauengestalt in den Raum, setzte sich neben der Tür auf einen Schemel.
Die Burgherrin trug das Haar mit Nadeln hochgesteckt. Ein Schleier bedeckte den Kopf und Teile der weiten Tunika.
»Setzt Euch, Missus des Kaisers! Erzählt mir von der Reise«, sagte sie statt eines Grußes in korrektem Latein. Höflich wies sie auf einen Stuhl. »Boten bekommen wir hier selten zu sehen. Was hat Euch zur Fallsteinburg geführt?«
»Ein Brief des Kaisers. Er schenkt Euch in Auhäusern ein Gut und zwei Wälder.« Alexius deutete eine Verbeugung an, streckte ihr das kaiserliche Dokument hin. »Wollt Ihr hören, was er Euch schreibt?«
»Gebt her.« Entschlossen nahm Elana ihm das Schriftstück aus der Hand. Ohne den Gast weiter zu beachten, setzte sie sich an den Tisch und begann zu lesen.
Alexius konnte seine Verblüffung nicht für sich behalten. »Der Bischof von Chur hat sich gewundert, dass ich als Ritter und Missus Latein und Griechisch lesen kann. Er würde seinen Augen nicht trauen, wenn er Euch sehen könnte. Eine lesende Frau! Kommt Ihr etwa aus einem Nonnenkloster?«
»Die Mauern wären mir zu eng«, sagte sie amüsiert. »Frauen lesen in der Regel nicht, weil man sie nicht dazu erzieht. Ich kann machen, was ich will.«
»Und doch verhüllt Ihr Euer Gesicht wie eine behütete Gattin, die ohne ihren Mann keinen Schritt wagt.«
»Das denkt Ihr von mir?« Elana lachte. Der Klang ihrer Stimme, das blonde Haar … Alexius überlegte nicht lange. Er ging auf sie zu und schob den Schleier sachte zur Seite. Die junge Bäuerin vom See! Er schwitzte plötzlich und wurde rot.
»Ihr braucht Euch nicht zu schämen …?«
»Alexius. Ich heiße Alexius. Mein Vater ist aus Byzanz gekommen, meine Mutter Westfränkin aus Reims. Seit mehr als zwei Jahren lebe ich am Hof.«
»Ehrlich, Alexius, Ihr wart bis zur Brust von einem Strauch verdeckt. Ich habe nur das hängen gebliebene Tuch gesehen und so verstanden, dass Ihr … fast nichts anhattet.« Nun senkte Elana die Augen, fasste sich sofort wieder. »Ihr seid für einige Tage mein Gast.« Als er strahlte, fuhr die Herrin der Fallsteinburg fort: »Es steht im Schreiben des Kaisers. Er wünscht, dass Ihr mir helft, die neuen Güter in Besitz zu nehmen.«
Elana legte das Schriftstück auf eine Truhe, als die Tür des Burgsaals aufgestoßen wurde. Ein Diener schritt an ihnen vorbei und verteilte Teller, Messer, Becher auf dem Tisch und befestigte brennende Kerzen in den vergoldeten Leuchtern. Plötzlich kam Leben in die Halle. Dem bunt bekleideten Haushofmeister folgten zwei Burschen, die dampfende Platten mit Braten und Sommergemüse trugen. Der Mundschenk füllte die Becher mit Wein und Wasser. Alexius gab Elana die Hand und führte sie zu Tisch.
Im Kerzenlicht der festlichen Tafel sah die Burgherrin zart und verletzlich aus. Das mit Nadeln und golddurchwirkten Bändern hochgehaltene Haar ließ ihre Stirn höher, die langen Wimpern dunkler erscheinen. Die gerade Haltung, die stolze Mimik harmonierten mit ihren Worten.
»Sagt mir, Bote des Kaisers: Gibt es in Reims oder in Byzanz selbstmündige Burgherrinnen?«
»Ich weiß es nicht. Man hört nur von Töchtern, die mit dreizehn, höchstens vierzehn Jahren vom Vater verheiratet werden.«
»Ja, aber in Sachsen hat die Ehefrau die alleinige Entscheidung über das Heiratsgut und ihr Erbe. Dies jedenfalls in der Theorie.«
»Und in der Wirklichkeit?«
»Wenn Frauen unter ihrem Stand heiraten, kommt es vor, dass sie sich durchsetzen können. Es gibt sogar Gattinnen, die ein Recht der Mitbestimmung auf den Besitz ihres Mannes haben, aber sie sind die Ausnahme.«
»Und wie kommt Ihr als Vierzehn –, Fünfzehnjährige …«
»Ich bin am Johannestag sechzehn geworden.«
»Wie kommt Ihr als Sechzehnjährige dazu, allein und ledig eine Burg und Ländereien zu verwalten?«
»Ich habe keine Eltern mehr. Auch keine Geschwister. Vater hat mir seinen Besitz hinterlassen. Hier in Sachsen können auch die Frauen erben. Alle Söhne und Töchter erhalten ihren Anteil vor den Brüdern des verstorbenen Vaters.«
»Töchter bekommen einen Vormund.«
»Meist.« Elanas Mundwinkel glitten nach oben, sie lachte klingend. »Ich habe
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