Das Siegel der Macht
machen die Stärke der Abteien aus«, echote Alexius. »Wichtiger als alles sind die Gebete.«
»Ihr habt Recht. Für die Arbeit bleibt uns kaum mehr Zeit, bei weit über hundert Psalmen täglich. Dafür haben wir ausreichend Dienerschaft.«
Ein junger Klosterbruder trat nach kurzem Anklopfen ein und legte dem Prior eine Liste vor. Andreas sah sie aufmerksam durch, entschuldigte sich dann bei seinem Gast. »Ich habe die Anschlagtafel für die nächsten Tage kontrolliert.« Als Alexius ihn fragend musterte, fuhr er fort: »Regeln sind die Seele der Reformklöster. Das wisst Ihr sicher. Wir schreiben alles auf. Die Reihenfolge des Küchendienstes, die Namen der Zelebranten für die Totenmessen.«
»Auch die Lektüre für die Mönche?«
»Nein, normalerweise liest der Klosterbruder ein Buch pro Jahr. Gerade vor einigen Tagen, zu Beginn der Fastenzeit, war die Austeilung. Jeder kann sein Buch wählen, da gibt es nichts aufzuschreiben.«
»Ihr aber verbringt mehr Zeit mit dem Lesen als die anderen …«
»Ich gelte für den bescheidenen Maßstab von Peterlingen als Gelehrter. Mit Eurem Meister Gerbert aber dürft Ihr mich nicht vergleichen. Auch weil meine Bildung kaum Abstecher in die altrömische und griechische Dichter- und Denkerwelt zuließ.«
»Seid Ihr wie Gerbert im Kloster aufgewachsen?«
»Ja, Ihr wisst vielleicht, dass verschiedenste Wege in die Klausur führen. Manche treten aus familiären Gründen ganz jung ein, andere erst im dreißigsten, sogar vierzigsten Lebensjahr aus tiefer Gläubigkeit. Wir haben auch unruhige Geister, sogar Verbrecher, die sich im Kloster verstecken oder Vergessen suchen wollen. Dann wieder kommen Mönche nur für kurze Aufenthalte aus Studiengründen. Gerade vor zwei Monaten ist ein Bruder aus Verona zu uns gestoßen. Er forscht nach Dokumenten, die er in Peterlingen zu finden hofft. Ich bezweifle allerdings, dass er in unserem bescheidenen Scriptorium fündig wird.« Andreas griff zum Weinbecher. Die Wangen gerötet, das Gespräch regte ihn an. »Ich selbst war ein puero oblato. Mit sieben Jahren haben meine Onkel mich als kränkliches Kind im Kloster abgeliefert. So sind sie das Waisenkind losgeworden und haben einen Fürbitter gewonnen.«
»Das klingt nicht gerade dankbar.«
»Ihr habt Recht, eigentlich müsste ich es sein. Im Kloster habe ich die Welt der Bücher entdeckt und das Gebet, zwei unerschöpfliche Lebensquellen. Doch sagt, Missus Alexius, habt Ihr auch Platon studiert?«
»Wie könnte es bei Gerbert anders sein. Ihr wollt mir doch nicht weismachen, dass Euch Platons Ideen beschäftigen?«
»Warum nicht?«, stürzte sich Andreas mit Genuss in die Diskussion. »Vor allem amüsiert mich, wie Platon die vier Elemente zusammenstellt.«
»Als Extreme nennt er das Feuer und die unbewegliche Erde. Dazwischen die Luft, die dem Feuer untergeordnet ist, und das Wasser, das zwischen der Luft und der Erde steht.«
Andreas nickte anerkennend. »Ja, aber leider stimmt die Würde der Lebewesen nicht mit Platons Rangordnung der Elemente überein.«
»Wie ordnet Ihr sie, Bruder Andreas?«, fragte Alexius interessiert.
»Auch wenn das Wasser der Erde übergeordnet ist, stehen wir Erdenbürger doch viel höher als die Fische. Umgekehrt besitzen die gläubigen Christenmenschen mehr Würde als die Dämonen, obwohl diese in der ranghöheren Luft wohnen.«
»Seltsam, wie die alten Philosophen noch heute in unser Denken passen, obwohl sie Christus gar nicht gekannt haben«, sinnierte Alexius.
»Wie meint Ihr das?« Die Stimme des Seniors klang irritiert.
»Wenn die Liebe zur Weisheit Gott ist, dann sind alle Philosophen auch Liebhaber Gottes …«
Andreas gab keine Antwort und beugte seinen kahlen Schädel über die Schüssel, obwohl diese längst leer war. Alexius hörte, wie der Prior geräuschvoll die Luft durch die Nase zog. Die Stimmung war gespannt, der Missus machte sich auf eine bissige Bemerkung gefasst. Umso erstaunter war er, als Andreas sich plötzlich aufrichtete und ihm lächelnd beipflichtete:
»Das gilt besonders für Platon, der Gott als Ursache des Seins nennt. Nach ihm ist das Höchste ein tugendhaftes Leben, möglich nur dem, der Gott kennt und ihn nachahmt. Philosophieren heißt für Platon Gott lieben.«
»Er spricht nicht von Gott, sondern von Göttern und teilt alle vernunftbegabten Lebewesen in drei Gruppen ein: Götter, Menschen und Dämonen.«
Andreas sprang auf und klopfte Alexius triumphierend auf die Schultern. »Jetzt seid Ihr in die
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