Das Siegel der Tage
auf, daß der Stripper von Lori engagiert worden war, aber inzwischen hatte der nichts mehr an als seine Sonnenbrille und einen winzigen Tanga, der seine intimsten Teile nicht vollständig verbarg.
Wenn man bedenkt, daß wir unter einem Dach arbeiten, Willies Kanzlei, die Stiftung und mein Büro mehr oder weniger gemeinsam managen, uns fast täglich sehen, in den entlegensten Teilen der Erde zusammen Urlaub machen und nur ein paar Straßen voneinander entfernt wohnen, vertragen wir uns ziemlich gut. Ein Wunder, würde ich sagen. Gute Therapeuten, würde Nico sagen.
Mein Lieblingsschriftsteller
Entgegen dem, was sich hätte erwarten lassen, führte mein harsches Urteil über Willies Roman und seinen sexbesessenen Zwerg nicht zum Krieg zwischen uns, was zweifellos geschehen wäre, hätte Willie die Stirn besessen, sich negativ über meine Bücher zu äußern, aber wir mußten doch einsehen, daß ich nicht die geeignete Person war, um ihm zu helfen, und er einen professionellen Lektor brauchte. Da tauchte eine junge Literaturagentin auf, die sich zunächst sehr für das Buch interessierte und dem Ego meines Mannes nach Kräften Zucker gab; allerdings flaute ihre Begeisterung zusehends ab. Nach sechs Monaten beglückwünschte sie ihn zu seinen Bemühungen, versicherte ihm, er habe Talent, und erinnerte ihn daran, daß viele Schriftsteller, darunter Shakespeare, Seiten hervorgebracht hatten, deren letzte Bestimmung eine Truhe auf dem Dachboden war. Bei uns gäbe es doch etliche Truhen, in denen der Zwerg auf unbestimmte Zeit den Schlaf des Gerechten schlafen könne, während Willie über ein neues Romanthema nachdachte. Aber mein Mann nahm sich anderer Leute Ansichten nicht übermäßig zu Herzen und schickte das Manuskript noch an weitere Agenten und einige Verlage, die es ihm mit freundlichen, aber unmißverständlichen Worten zurücksandten. Weit entfernt, ihn zu entmutigen, stachelten die Ablehnungsschreiben seinen Kampfgeist an – er gehört nicht zu denen, die sich von der Realität fertigmachen lassen. Inzwischen lachte ich ihn nicht mehr aus, weil ich mir überlegt hatte, daß das Schreiben der letzten Phase seines Lebens einen Sinn geben könnte. Wenn stimmte, was die Agentin sagte, und Willie Talent besaß, und wenn er die Sache ernst meinte und es ihm gelang, mit über sechzig Jahren noch zum Schriftsteller zu werden, würde es mir erspart bleiben,mich in Zukunft um einen alten Wirrkopf zu kümmern. Wir hätten also beide etwas davon: Das Schreiben könnte ihn bis ins hohe Alter froh und gesund erhalten.
Als wir eines Abends eng beieinander im Bett lagen, erzählte ich ihm von den Vorteilen, die es mit sich bringt, über etwas zu schreiben, das man kennt. Was wußte er schon von sexwütigen Zwergen? Nichts, es sei denn, er projizierte in diese bedauernswerte Figur eine Seite seiner Persönlichkeit, die mir bisher entgangen war. Dagegen war er seit über dreißig Jahren Anwalt und konnte sich erstaunlich gut an Einzelheiten erinnern. Wieso nutzte er das nicht, um einen Krimi zu schreiben? Jeder der vielen Fälle, die er in seinem Leben bearbeitet hatte, konnte ihm als Ausgangspunkt dienen. Nichts ist unterhaltsamer als ein blutrünstiger Mord. Er dachte darüber nach, ohne einen Ton zu sagen. Am Tag darauf bummelten wir durch das chinesische Viertel von San Francisco und sahen an einer Straßenecke einen chinesischen Albino. »Jetzt weiß ich, worum es in meinem nächsten Roman geht. Ein Verbrechen mit einem chinesischen Albino wie dem dort«, verkündete er mir im gleichen Tonfall, in dem er zum erstenmal, als er bei der Parade der Sadomasochisten in San Francisco den Zwerg an der Hundeleine sah, seine literarischen Ambitionen erwähnt hatte.
Zwei Jahre später erschien sein Roman Der Tote im Smoking in Spanien, und mehrere Verlage kauften die Rechte für andere Länder. Zusammen mit seinen Söhnen und zwei treuen Freunden, die ihn feiern wollten, reisten wir zur Buchpräsentation nach Madrid und Barcelona. Überall war die Presse neugierig auf ihn, und nachdem sie mit ihm gesprochen hatten, schrieben die Journalisten sehr freundlich über ihn, weil er mit seiner unprätentiösen Art alle, und insbesondere die Frauen, für sich einnahm. Er ist völlig frei von Allüren, blickt einen nur mit seinen blauen Augen und dem verwegenen Lächeln unter seinem ewigen Huthervor an. Während der Buchvorstellung in Madrid wurde er gefragt, ob er berühmt werden wolle, worauf er sichtlich bewegt antwortete, er habe
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