Das Siegel der Tage
beiden ihren Wecker auf fünf Uhr morgens. Vom Hotelzimmer aus waren keine Telefonate ins Ausland möglich, also zogen sie sich rasch an und fuhren hinunter zur Rezeption, an der um diese Zeit niemand war, der ihnen hätte weiterhelfen können, doch wußten sie, daß es draußen eine Telefonzelle gab. Sie bogen in eine Seitengasse ein, in der wegen der beliebten Restaurants und der vielen Läden für Touristen tagsüber geschäftiges Treiben herrschte, um diese Stundeaber keine Menschenseele unterwegs war. Die altertümliche Telefonkabine, original aus einem Film der fünfziger Jahre, funktionierte nur mit Münzen, aber Lori kannte das schon und hatte genug bei sich, um in der Klinik anzurufen. Das Blut pochte ihr in den Schläfen, und sie zitterte vor Anspannung, als sie mit einem Stoßgebet auf den Lippen die Nummer wählte. Gleich würde sich ihre Zukunft entscheiden. Auf der anderen Seite der Erde meldete sich die Stimme der fürsorglichen Krankenschwester: »Es hat nicht geklappt, Lori, es tut mir so leid; ich verstehe nicht, wie das passieren konnte, die befruchteten Eizellen hätten besser nicht sein können …«, aber Lori hörte sie schon nicht mehr. Benommen hängte sie den Hörer auf die Gabel und sank ihrem Mann in die Arme. Und diesem Mann, der sich so lange dagegen gesträubt hatte, weitere Kinder in die Welt zu setzen, liefen die Tränen über die Wangen, weil er sich am Ende wie Lori Hoffnungen auf ein gemeinsames Kind gemacht hatte. Wortlos hielten sie einander im Arm, bis sie schließlich aus der Kabine auf die Straße hinaus taumelten, die verlassen und still im grauen Zwielicht des Morgens lag. Aus den Luftschächten in den Gehsteigen stiegen Dampfsäulen auf, als wollte die Kulisse die Trostlosigkeit der beiden durch albtraumhafte Bilder illustrieren. Der Rest dieser Japanreise war eine Zeit der Rekonvaleszenz. Nie zuvor waren sie einander so nah gewesen. In der gemeinsamen Trauer fanden sie in einer neuen Tiefe zueinander, nackt, schutzlos.
Etwas geschah danach mit Lori, als wäre in ihrem Innern ein Glas zersprungen, und wie Wasser versickerte diese zwanghafte Sehnsucht, die ihr Antrieb und ihre Marter gewesen war. Sie begriff, daß sie nicht von Enttäuschung zerfressen neben Nico her leben konnte. Es wäre ihm gegenüber nicht fair gewesen. Er hatte die hingegebene und heitere Liebe verdient, die sie beide miteinander zu leben versucht hatten. Sie war ans Ende eines quälenden Wegsgelangt und wußte, wollte sie weiterleben, mußte sie ihren Kinderwunsch mit der Wurzel ausreißen. Was es an Möglichkeiten gab, hatten sie versucht, offensichtlich war ein eigenes Kind in ihrem Schicksal nicht vorgesehen, aber die Kinder ihres Mannes, die seit vielen Jahren ihr Leben teilten, hingen sehr an ihr und würden die Leere füllen können. Sich abzufinden gelang Lori nicht von einem Tag auf den anderen, fast ein Jahr war sie krank an Körper und Seele. Dünn war sie immer schon gewesen, nun aber verlor sie binnen weniger Wochen etliche Kilo, war nur noch Haut und Knochen und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie verletzte sich an einer Bandscheibe und konnte sich monatelang kaum bewegen, versuchte weiter zu funktionieren und schluckt dafür starke Schmerztabletten, von denen sie Halluzinationen bekam. Mehr als einmal war sie der Verzweiflung nah, doch es kam der Tag, an dem sie aus dieser langen Trauer auftauchte, ihr Rücken nicht mehr schmerzte, ihre Seele gesund und sie zu einer anderen Frau geworden war. Keinem von uns entging die Verwandlung. Sie nahm wieder zu, sah jünger aus, ließ sich die Haare wachsen, trug Lippenstift, nahm ihre Yogaübungen und die langen Wanderungen durch die Hügel wieder auf, aber jetzt aus sportlichen Gründen, nicht als Flucht. Sie lachte wieder dieses ansteckende Lachen, mit dem sie Nico den Kopf verdreht hatte und das wir lange, lange nicht mehr gehört hatten. Nun endlich konnte sie sich den Kindern von ganzem Herzen und voller Freude widmen, als habe ein Nebelschleier sich verzogen und den klaren Blick auf sie freigegeben. Es waren ihre Kinder. Ihre drei Kinder. Die ihr von den Muscheln in Bahía und der Astrologin in Colorado verheißen worden waren.
Striptease
Seit Jahren arbeiten Willie und Lori nun schon zusammen im Bordell von Sausalito, teilen sich sogar dasselbe Bad. Es macht Spaß, diese beiden, die verschiedener kaum sein könnten, miteinander zu sehen. Willies Durcheinander, seiner Eile und seinen Kraftausdrücken setzt Lori Ruhe, Ordnung,
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