Das Siegel der Tage
verbrennen hinterher die Leichen. Die Flüchtlinge in meiner Werkstatt haben auch solche Geschichten auf Lager. Bei ihnen zu Hause sind die Leute so arm, daß manche ihre Nieren verkaufen, um ihre Kinder zu ernähren.«
»Aber wer kauft sie, Tabra?«
»Leute mit Geld, auch hier in Amerika. Wenn eins deiner Enkelkinder ein Organ brauchte, um weiterzuleben, und jemand würde dir eins anbieten, würdest du es nicht auch kaufen, ohne lang zu fragen?«
Es war eine dieser Fragen, die sie mir auf unseren langenSpaziergängen durch den Wald stellte. Anstatt beschwingt vom Duft der Bäume und dem Konzert der Vögel, kehrte ich in der Regel am Boden zerstört von diesen Ausflügen heim. Aber nicht immer redeten wir über das von Menschen oder ihrer Politik verursachte Grauen, wir sprachen auch über Gefiederte Echse, der sich sporadisch im Leben meiner Freundin blicken ließ und dann wieder für Monate abtauchte. Tabra wäre er als Zierat am liebsten gewesen: mit seinen Zöpfen und Halsketten in einem Komantschentipi in ihrem Patio.
»Mir kommt das unpraktisch vor, Tabra. Wer füttert ihn dort und wäscht seine Unterhosen? Er müßte dein Bad benutzen, aber putzen würdest du es.« Aber derlei kleinmütige Argumente perlen an ihr ab.
Die Kinder, die nicht kamen
Dreimal wurden Juliette die im Labor mit Nicos Spermien befruchteten Eizellen der brasilianischen Spenderin eingepflanzt. Dreimal war es, als hielte unsere gesamte Sippe über Wochen den Atem an in Erwartung der Ergebnisse. Wir setzten auf die altbewährten magischen Mittel. In Chile wandten sich Pía und meine Mutter mit neuen Spenden für seine wohltätigen Werke an den Nationalheiligen Pater Hurtado. Das Bild dieses revolutionären Heiligen, das alle Chilenen im Herzen tragen, zeigt ihn als jungen, tatkräftigen Mann in schwarzer Soutane mit einer Schaufel in der Hand bei der Arbeit. Sein Lächeln hat nichts Frömmelndes, es ist die reine Herausforderung. Von ihm stammt dieser Ausspruch, den du so gern zitiertest: »Geben, bis es weh tut.« Nachdem die ersten beiden Versuche, die Eizellen einzupflanzen, fehlgeschlagen waren, fand der dritte im Sommer statt. Ein Jahr zuvor hatten Lori und Nico für diese Zeit eine Reise nach Japan geplant, und sie entschlossen sich dazu, sie anzutreten, denn sollte ihre Hoffnung auf ein Kind erfüllt werden, würde es für lange Zeit ihr letzter Urlaub sein. Sie würden in Japan die Nachricht bekommen, und wenn sie gut wäre, könnten sie feiern, wäre sie dagegen schlecht, hätten sie ein paar Wochen für sich, um sich in aller Stille, fern von den Beileidsbekundungen ihrer Freunde und Angehörigen damit abzufinden.
Eines frühen Morgens schreckte ich aus dem Schlaf. Das Zimmer war nur spärlich erhellt vom schwachen Dämmerlicht draußen und einem Lämpchen, das wir im Flur immer brennen lassen. Die Luft regte sich nicht, und über dem Haus lag eine ungewohnte Stille; man hörte weder das gleichmäßige Schnarchen von Willie und Olivia noch das vertraute Murmeln der drei im Wind sich wiegendenPalmen im Hof. Neben meinem Bett standen zwei bleiche Kinder, die sich an der Hand hielten, ein ungefähr zehnjähriges Mädchen und ein etwas jüngerer Bub. Sie waren im Stil des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts gekleidet, mit Spitzenkragen und Lacklederstiefelchen. Mir schien, daß ihre großen dunklen Augen sehr traurig blickten. Wir betrachteten einander einen Moment, aber als ich die Lampe anknipste, waren sie verschwunden. Eine Weile blieb ich liegen und hoffte vergeblich, daß sie zurückkämen, und als das Hämmern in meiner Brust schließlich nachgelassen hatte, schlüpfte ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, um Pía anzurufen. In Chile war es fünf Stunden später, und meine Freundin saß mit einer ihrer Stoffrestestickereien im Bett.
»Glaubst du, diese Kinder haben etwas mit Lori und Nico zu tun?« fragte ich sie.
»Wo denkst du hin! Das sind die Kinder der beiden englischen Damen.« Sie klang überzeugt und gelassen.
»Welcher englischen Damen?«
»Die mich immer besuchen, die durch Wände gehen. Habe ich dir nicht von ihnen erzählt?«
Zum vereinbarten Termin sollten Lori und Nico die Krankenschwester anrufen, die in der Klinik die einzelnen Behandlungsschritte koordinierte, eine Frau, die zur Geburtshelferin wie geschaffen war, jeden Fall mit großem Einfühlungsvermögen behandelte, weil sie wußte, wieviel für jedes Paar auf dem Spiel stand. Wegen der Zeitdifferenz zwischen Tokio und Kalifornien stellten die
Weitere Kostenlose Bücher