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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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daß sie Hungers sterben müssen; daß ein Giraffenbulle sechsMeter hoch ist, sein Herz sechs Kilo wiegt und er sechzig Kilo Blätter am Tag vertilgt; daß bei den Antilopen das dominante Männchen seinen Harem gegen Rivalen verteidigen und sich mit den Weibchen paaren muß. Der Anführer hat deshalb wenig Zeit zum Fressen und wird schwächer, bis ein Rivale ihn im Kampf besiegt und fortjagt. Der Chefposten wird etwa alle zehn Tage neu vergeben. Inzwischen wußte Nicole, was unter Paarung zu verstehen war. Obwohl ich nicht für ein Leben in freier Wildbahn geschaffen bin und nichts mich unsicherer macht als das Fehlen eines Spiegels, konnte ich mich über einen Mangel an Annehmlichkeiten auf dieser Reise nicht beklagen. Die Zelte waren luxuriös, und dank Loris Weitblick hatten wir Wärmflaschen im Bett, Höhlenforscherlampen, um in stockfinsterer Nacht zu lesen, Lotion gegen Stechmücken, Arznei gegen Schlangenbisse und am Nachmittag englischen Tee, der in einer Porzellankanne serviert wurde, während wir zusahen, wie zwei Krokodile eine hilflose Gazelle verschlangen.
    Wieder in Kalifornien, erlebte Alejandro, ehe der Sommer vorbei war, doch noch seinen Initiationsritus, wenn auch etwas anders, als Lidilia vom Volk der Samburu das vorgeschlagen hatte. Lori und Nico hatten im Internet ein Angebot gefunden, und nachdem sich die vier Eltern überzeugt hatten, daß es kein Bluff von Pädophilen und Sodomiten war, erlaubten sie Alejandro, daran teilzunehmen. Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben sollte bei Jungs durch eine Zeremonie markiert sein, da hatte Lidilia schon recht. Weil es bei uns eine entsprechende Tradition nicht gibt, wurde statt dessen dieses Training für Gruppen von Jungs angeboten, die mit mehreren Begleitern drei Tage in der Wildnis verbringen und dort Werte wie Respekt, Ehre, Mut, Verantwortungsbewußtsein, den Schutz der Schwachen und andere elementare Normen menschlichen Miteinanders erleben sollten, die unsere Gesellschaft gern inmittelalterliche Rittergeschichten verbannt. Alejandro war der Jüngste in seiner Gruppe. In der ersten Nacht hatte ich einen beklemmenden Traum: Mein Enkel hockte an einem Feuer zusammen mit einem Haufen hungriger, vor Kälte zitternder Waisenkinder wie in einer Erzählung von Dikkens. Am nächsten Morgen bat ich Nico inständig, seinen Sohn zurückzuholen, ehe in diesem finsteren Gehölz, in dem er mit wildfremden Menschen unterwegs war, ein Unglück geschah, aber Nico hörte nicht auf mich. Nach drei Tagen holte er ihn ab, und die beiden kamen gerade rechtzeitig zum sonntäglichen Abendessen im Familienkreis. Wir hatten Bohnengemüse nach einem chilenischen Rezept zubereitet, und das Haus roch nach Mais und Basilikum.
    Die gesamte Familie erwartete gespannt den Initiierten, der verdreckt war und hungrig. Alejandro, der jahrelang behauptet hatte, nicht erwachsen werden zu wollen, sah älter aus. Ich drückte ihn mit haltloser Großmutterliebe an mich, erzählte ihm meinen Traum und erfuhr, daß seine Erfahrung nicht ganz so gewesen war, wenngleich es ein Feuer und ein paar Waisenkinder in der Gruppe gegeben hatte. Einige seien auch vorbestraft gewesen, »eigentlich nette Kerle«, behauptete Alejandro, »die Dummheiten gemacht haben, weil sie keine Familie haben«. Er erzählte, sie hätten im Kreis um das Feuer gesessen und einer nach dem anderen darüber geredet, was ihnen zu schaffen machte. Er schlug vor, wir sollten das auch tun, da unser Stamm ja nun hier schon im Kreis saß, und einer nach dem anderen antwortete auf Alejandros Frage. Willie sagte, ihn beängstige die Situation seiner Kinder: Jennifer verschwunden und seine beiden Söhne drogenabhängig, ich sprach davon, daß du mir fehltest, Lori davon, daß sie keine Kinder bekommen konnte, und so jeder von dem, was ihn beschäftigte.
    »Und du, Alejandro, was macht dir zu schaffen?« wollte ich schließlich wissen.
    »Meine Streitereien mit Andrea. Aber ich habe fest vor,besser mit ihr auszukommen, und das wird mir auch gelingen, weil ich gelernt habe, daß jeder für das, worunter er leidet, selbst verantwortlich ist.«
    »Das stimmt aber nicht immer«, widersprach ich ihm heftig. »Ich bin nicht verantwortlich für Paulas Tod und Lori nicht dafür, daß sie keine Kinder bekommen kann.«
    »Manchmal können wir das Leid nicht vermeiden, aber wir können unterschiedlich damit umgehen. Willie hat Jason. Dich hat Paulas Tod dazu gebracht, eine Stiftung zu gründen, und du hast ihr Andenken unter uns

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