Das Siegel der Tage
die unvermeidlichen Bäuche strammer Biertrinker schreckten Alejandro nicht ab, hatte er doch gesehen, daß die Männer Karten spielten. Selbstbewußt ging er zu ihnen hin und bat darum, mitspielen zu dürfen. Die Antwort war schallendes Gelächter, aber er ließ nicht locker. »Wir spielen hier um Geld, Kleiner«, warnten sie ihn. Alejandro nickte; er fühlte sich sicher, weil er schon gegen Großmutter Hilda gewinnen konnte, und sehr reich, weil er fünf Dollar in kleinenMünzen einstecken hatte. Sie luden ihn ein, sich dazuzusetzen, und boten ihm ein Bier an, das er freundlich ablehnte, denn er war mehr an den Karten interessiert. Nach zwanzig Minuten hatte mein Enkel die sieben Schlägertypen ausgenommen und räumte mit den Taschen voller Scheine triumphierend das Feld.
Wir führten nach Art der Chilenen ein Leben als Sippe, waren ständig zusammen. Großmutter Hilda hatte viel Spaß mit Celia, Nico und den Kindern; deren Gesellschaft war ihr tausendmal lieber als unsere, und sie verbrachte die meiste Zeit bei ihnen. Wir hatten sie darauf vorbereitet, daß Sabrinas Mütter lesbisch waren, Buddhistinnen und Vegetarierinnen, drei Eigenschaften, die ihr nichts sagten. Die vegetarische Ernährung schien ihr als einziges inakzeptabel, stand ihrer Freundschaft mit den beiden aber nicht im Weg. Mehr als einmal besuchte sie Fu und Grace im Buddhistischen Zentrum und versuchte sie zum Hamburgeressen, Margaritatrinken und Pokerspielen zu verleiten. Meine Mutter und Onkel Ramón, mein wundervoller Stiefvater, kamen oft aus Chile zu Besuch; manchmal schloß sich mein Bruder Juan an, der mit nachdenklich schräg gelegtem Kopf und der ernsten Miene eines Bischofs aus Atlanta anreiste, wo er Theologie studierte. Nachdem er vier Jahre seines Lebens dem Göttlichen gewidmet hatte, machte er seinen Abschluß mit Auszeichnung; dann entschied er, daß er zum Prediger nicht taugte, kehrte auf seine alte Stelle zurück und lehrt bis heute Politikwissenschaft an der Universität. Willie kaufte Lebensmittel auf dem Großmarkt und sorgte dafür, daß dieses Flüchtlingscamp etwas Warmes zu essen bekam. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in der Küche mit blutigen Messern Rinderviertel traktiert, säckeweise Pommes fritiert und Berge von Salat putzt. War er besonders in Fahrt, bereitete er zu den Klängen seiner Ranchera-Platten höllisch scharfe mexikanische Tacos zu. Die Küche sah danach aus wie die Copacabana an Aschermittwoch, aber dieTischgesellschaft leckte sich die Lippen, auch wenn sie die Folgen von zuviel Öl und Chili später zu spüren bekam.
Das Haus war wie verwunschen: je nach Bedarf dehnte es sich aus und zog sich zusammen. Auf halber Höhe in den Hang gebaut, bot es einen weiten Ausblick über die Bucht, hatte im Erdgeschoß vier Schlafzimmer und darunter eine Einliegerwohnung. Dort hatten wir 1992 dein Krankenzimmer eingerichtet, in dem du, abgeschieden vom Treiben der Familie, etliche Monate verbrachtest. Manchmal erwachte ich nachts vom Gemurmel meiner eigenen Erinnerungen und vom Wispern fremder Traumgespinste, stand leise auf und streifte durch die Räume, dankbar für die Ruhe und Wärme dieses Hauses. ›Nichts Schlimmes kann hier geschehen‹, dachte ich, ›alles Schlimme ist für immer vertrieben worden, Paulas Geist wacht über uns.‹ Zuweilen überraschte mich der Morgen mit seinen Wassermelonen- und Pfirsichfarben, und ich trat hinaus, um den Blick über die Landschaft am Fuß des Hügels schweifen zu lassen, über den Dunst, der von der Bucht aufstieg, und am Himmel zogen die Wildgänse nach Süden.
Celia war dabei, sich langsam von den Strapazen der drei Schwangerschaften zu erholen, als sie zur Hochzeit ihrer Schwester nach Venezuela reisen mußte. Damals besaß sie bereits eine Aufenthaltsgenehmigung, mit der sie die Vereinigten Staaten verlassen und erneut einreisen durfte. Nico und die drei Kinder zogen vorübergehend zu uns, ganz im Sinne von Großmutter Hilda, die oft fragt: »Wieso wohnen wir nicht alle zusammen, wie sich das gehört?« In Caracas war Celia unterdessen mit all dem konfrontiert, was sie durch ihre Heirat mit Nico hatte hinter sich lassen wollen, und es kann nicht angenehm für sie gewesen sein, denn als sie zurückkam, war sie restlos niedergeschlagen und entschlossen, den Kontakt zu einem Teil ihrer Verwandtschaft abzubrechen. Sie klammerte sich an mich, und ich machtemich bereit, sie gegen Gott und die Welt in Schutz zu nehmen, auch gegen sich selbst. Sie verlor wieder Gewicht,
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