Das Siegel der Tage
verstehst das nicht, sie streiten.«
»Okay, Nicole, sie streiten. Kann ich jetzt Nachrichten sehen?«
Im nächsten Moment lief ein Elefantenbaby durchs Bild. Nicole schrie auf, lief näher ran, um besser zu sehen, drückte die Nase gegen den Bildschirm und drehte sich dann, die Hände in die Hüften gestemmt, zu Willie um.
»Das kommt davon, wenn man dauernd streitet!«
Weil alle Erwachsenen der Familie arbeiteten und nicht auf sie aufpassen konnten, mußte Nicole schon im Windelalter in den Kinderhort gehen. Anders als ihre Schwester, die immer einen Koffer mit ihren größten Schätzen mit sich herumschleppte – eine unendliche Menge Flitterkram, von dem sie nie auch nur ein Stück vergaß –, besaß Nicole keinerlei Sinn für Besitz, war frei und ungebunden wie ein Vögelchen.
Gefiederte Echse
Tabra, die Vagabundin der Sippe, reiste mehrmals im Jahr in abgelegene Erdteile, mit Vorliebe an Orte, von denen das Außenministerium Bürgern der Vereinigten Staaten abriet, weil sie gefährlich waren, wie etwa der Kongo, oder politisch eine extrem andere Haltung vertraten, wie etwa Kuba. Sie hatte die Welt kreuz und quer durchfahren, unter primitiven Bedingungen, bescheiden wie eine Pilgerin und allein, bis sie dem Mann begegnete, der bereit war, sie zu begleiten. Da ich die Fülle der Verehrer meiner Freundin nicht mehr auseinanderhalten kann und sich einige Anekdoten in meiner Erinnerung vermischen, gebietet es die elementare Vorsicht, daß ich seinen Namen ändere. Nennen wir ihn Alfredo López Gefiederte Echse. Er war der Klügsten einer und so hübsch, daß er sich unvermeidlich in jeder Fensterscheibe und jedem Spiegel in seiner Reichweite bewundern mußte. Seine olivfarbene Haut, sein athletischer Wuchs waren eine Augenweide vor allem für Tabra, die hingerissen verstummte, während er von sich selbst sprach. Sein Vater war Mexikaner aus Cholula und seine Mutter eine Indianerin vom Stamm der Komantschen in Texas, womit er sich bis an sein Lebensende des kräftigen schwarzen Schopfes sicher sein durfte, den er für gewöhnlich im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammenband, sofern Tabra ihm das Haar nicht flocht und mit Glasperlen und Federn verzierte. Von jeher war er neugierig aufs Reisen gewesen, sein schmaler Geldbeutel hatte es ihm jedoch nie erlaubt. Statt dessen hatte Gefiederte Echse sich ein Leben lang auf eine geheime Mission vorbereitet, von der er allerdings jedem erzählte, der ihm sein Ohr lieh: Moctezumas Federkrone aus einem Museum in Österreich zu stehlen und sie dem Volk der Azteken, ihren legitimen Eigentümern, zurückzugeben.Er besaß ein schwarzes T-Shirt mit dem Spruch: KRONE ODER TOD, ES LEBE MOCTEZUMA. Willie fragte nach, ob die Azteken angedeutet hätten, daß sie seine Initiative unterstützten, was er verneinte, weil alles noch überaus geheim sei. Die Federkrone aus vierhundert Quetzalfedern war über fünf Jahrhunderte alt und vermutlich ein wenig mottenzerfressen. Bei einem Abendessen im Familienkreis fragten wir, wie er sie zu transportieren gedachte, woraufhin er uns nicht mehr besuchte; vielleicht glaubte er, wir wollten uns über ihn lustig machen. Tabra erklärte uns, die Imperialisten würden sich der Kulturschätze fremder Völker bemächtigen; die Briten zum Beispiel, die einst den Inhalt der ägyptischen Gräber geraubt und nach London gebracht hätten. Gefiederte Echse wiederum bewunderte das Quetzalcoatl-Tattoo an Tabras rechter Wade. Es konnte kein Zufall sein, daß sie diese Gottheit Mesoamerikas als Tätowierung trug, die gefiederte Schlange, die seine eigene Namensgebung inspiriert hatte.
Auf Echses Anregung hin, der sich als guter Komantsche von der Natur der Wüste gerufen fühlte, unternahmen die beiden einen Ausflug ins Tal des Todes. Ich warnte Tabra, das sei keine gute Idee, schon der Name des Ortes verheiße nichts Gutes. Sie saß tagelang am Steuer, warf sich dann das Zelt und die Taschen über die Schulter und stapfte mehrere Meilen dehydriert und mit Sonnenstich hinter ihrem Helden her, der heilige Steinchen für seine Rituale auflas. Meine Freundin sah davon ab, sich zu beklagen; sie wollte nicht, daß er ihr ihren desolaten körperlichen Zustand und ihr Alter vorwarf: sie war zwölf Jahre älter als er. Schließlich fand Gefiederte Echse den idealen Lagerplatz. Tabra, mittlerweile rotebeeterot und mit geschwollener Zunge, baute das Zelt auf und ließ sich, schlotternd vor Fieber, auf einen Schlafsack sinken. Der Verfechter der indianischen Sache
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