Das Siegel der Tage
Geräusche zu hören, als würden Möbel gerückt. Die Geräusche kannten wir alle und hatten verschiedene Erklärungen dafür: Rehe sind im Garten und laufen auf der Terrasse herum, die Rohrleitungen knacken wegen der Kälte, die trockenen Holzböden knarren. Meine Freundin Celia Correas Zapata, die an der Universität von San José Literatur unterrichtet, seit über zehn Jahren meine Romane bespricht und gerade mit Isabel Allende. Mein Leben, meine Geister ein Buch über meine Arbeit schrieb, schlief einmal in deinem alten Zimmer und wurde um Mitternacht von einem starken Jasminduft geweckt, obwohl tiefer Winter war. Auch sie erwähnte die Geräusche, aber niemand maß ihnen große Bedeutung bei, bis ein deutscher Journalist, der ein langes Interview mit mir führte und bei uns übernachtete, steif und fest behauptete, er habe gesehen, wie sich das Bücherregal, lautlos und ohne daß die Bücher verrutscht seien, fast einen halben Meter von der Wand weg verschoben habe. Es hatte in der Nacht kein Erdbeben gegeben, und diesmal handelte es sich nicht um die Wahrnehmung lateinamerikanischer Frauen, sondern um die Aussage eines deutschen Mannes, dessen Wort Tonnengewicht besaß. Wir gewöhnten uns also an die Vorstellung, daß du uns zuweilen besuchtest, auch wenn die Putzfrau schon beim Gedanken daran die Nerven verlor. Als ich Nico erzählte, was Alejandro gesehen hatte, sagte er, der Kleine habe bestimmt etwas aufgeschnappt und den Rest habe seine kindliche Phantasie dann besorgt. Mein Sohn hat immer für alles eine rationale Erklärung und ruiniert mir damit die besten Anekdoten.
Andrea wehrte sich schließlich nicht mehr gegen ihre Brille, und wir konnten auf die Gummibänder und Sicherheitsnadeln verzichten, aber an ihrer sagenhaften Unbeholfenheit änderte sich nichts. Sie ging ein bißchen verlorendurch die Welt, konnte weder unfallfrei Rolltreppe fahren noch eine Drehtür passieren. Am Ende einer Schulaufführung, in der sie als Hawaiimädchen mit Ukulele aufgetreten war, verbeugte sie sich tief und lange, nur dummerweise mit dem Popo zum Publikum. Für den respektlosen Gruß erntete sie einhelliges Gelächter, sehr zum Ärger der Familie und zum Entsetzen meiner Enkeltochter, die eine Woche vor Scham nicht vor die Tür gehen wollte. Andrea hatte das sonderbare kleine Gesicht eines Kuscheltiers, was durch ihren Lockenkopf noch betont wurde. Sie lief immer verkleidet herum. Ein ganzes Jahr trug sie eins meiner Nachthemden – rosa, versteht sich –, und es gibt ein Foto von ihr im Kindergarten mit Pelzstola, einem Geschenkband um die Brust, Brauthandschuhen und zwei Straußenfedern im Haar. Sie redete vor sich hin, weil sie die Stimmen der Figuren aus ihren Geschichten hörte, die sie nicht in Frieden ließen, und oft erschrak sie vor ihrer eigenen Phantasie. Bei uns im Flur hing hinten ein Spiegel an der Wand, und sie bat mich häufig, sie auf dem »Spiegelweg« zu begleiten. Ihre Schritte wurden zögerlicher, je näher wir kamen, denn dort lauerte ein Drache, aber just wenn das Untier zum Sprung ansetzte, kehrte Andrea aus dieser anderen Sphäre in unsre zurück. »Es ist bloß ein Spiegel, da gibt es kein Monster«, sagte sie, klang aber nicht sehr überzeugt. Im nächsten Augenblick war sie wieder in ihrer Geschichte und führte mich an der Hand auf ihrem ausgedachten Weg. »Dieses Mädchen wird entweder völlig verrückt oder schreibt irgendwann Romane«, urteilte meine Mutter. Ich war in dem Alter genauso gewesen.
Nicole machte einen Schuß, kaum daß sie laufen gelernt hatte, und war nun nicht mehr prall und kompakt wie ein Robbenbaby, sondern schwebte in gleichsam schwereloser Grazie. Sie besaß einen messerscharfen Verstand, ein gutes Gedächtnis, einen ausgeprägten Orientierungssinn, der sie nie im Stich ließ, und mit ihren Knopfaugen unddem Hasenzähnchenlächeln hätte sie selbst Graf Draculas Herz erweicht. Willie war machtlos gegen sie. Nicole konnte es nicht lassen, sich neben ihn zu setzen, wenn er Fernsehnachrichten sehen wollte, und hatte ihn im Handumdrehen überredet, auf einen Zeichentrickfilm umzuschalten. Willie wechselte das Zimmer, um seine Nachrichten zu sehen, und Nicole, die es nicht leiden konnte, allein zu bleiben, hinterher. Das wiederholte sich mehrmals am Tag. Einmal sah sie auf dem Bildschirm einen Elefantenbullen, der eine Elefantendame bestiegen hatte.
»Was machen die da, Willie?«
»Sie paaren sich, Nicole.«
»Was?«
»Sie machen ein Kind.«
»Nein, Willie, du
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