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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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bekamen dort jeden Abend eine Skulptur aus Schokolade serviert, in der einheimische Themen dargestellt waren, etwa der Kazike Caupolicán mit seiner Lanze und zweien oder dreien seiner Mapuche-Krieger. Tabra verleibte sich Caupolicán mühsam ein in der Hoffnung, ihn damit ein für allemal loszuwerden, aber es dauerte nicht lang, da hatte man ihn durch das nächste Kilo Schokolade ersetzt: durch einen Karren mit zwei Ochsen oder durch sechs von unseren Viehtreibern, unseren berühmten Guasos, zu Pferd und mit chilenischer Fahne. Woraufhin Tabra, die als Kind gelernt hatte, daß man seinen Teller leer ißt, tief Luft holte und zum Angriff überging, bis sie vor einer Nachbildung des Aconcagua die Waffen streckte, vor dem höchsten Gipfel der Andenkordillere, aus massiver Schokolade und so gewaltig wie der dunkle Felsblock, den ich, wenn ich meinem Therapeuten glauben durfte, in der Brust trug.

Kurzgeratene Komiker
    Willie und ich stellten überrascht fest, daß wir schon seit neun Jahren zusammen waren; inzwischen fühlten wir uns sicherer auf unserem Weg. Willie sagt, er habe vom ersten Moment an in mir die verwandte Seele gesehen und mich ganz akzeptiert. Aber bei mir ist es anders gewesen. Noch heute, eine Ewigkeit später, staune ich, daß wir uns in der Weite der Welt gefunden haben, uns zueinander hingezogen fühlten und die Hürden, die manchmal unüberwindlich schienen, aus dem Weg räumten, um ein Paar zu bleiben.
    Die Kinder, diese kurzgeratenen Komiker, wie der spanische Humorist Gila sie genannt hat, waren das Vergnüglichste in unserem Leben. Sabrina hatte die dunklen Wolken, die über ihrer Geburt gehangen hatten, vertrieben, und die Gaben, die ihr gute Feen zum Ausgleich ihrer körperlichen Schwierigkeiten in die Wiege gelegt hatten, traten deutlich zutage: Mit Willenskraft stellte sie sich Herausforderungen, die einen Samurai das Fürchten gelehrt hätten. Was andere Kinder mühelos bewerkstelligten, sei es laufen oder einen Löffel Suppe essen, verlangte von ihr unvorstellbare Hartnäckigkeit, aber am Ende gelang es ihr immer. Sie hinkte, ihre Beine gehorchten ihr nicht recht, aber niemand zweifelte daran, daß sie einmal würde laufen können, schließlich hatte sie schon schwimmen gelernt, konnte an einem Ast baumeln und, mit einem Bein in die Pedale tretend, radfahren. Sie ist außergewöhnlich sportlich wie ihre Großmutter mütterlicherseits, Willies erste Frau; von der Hüfte aufwärts ist sie so stark und behende, daß sie heute in einem Rollstuhl Basketball spielt. Damals war sie ein zierliches und hübsches Kind, hatte eine Hautfarbe wie Kandiszucker und das Profil der berühmten Königin Nofretete. Sie lernte früher als jedes andere Kind sprechen und zeigte nie dasgeringste Anzeichen von Scheu, vielleicht weil sie es gewohnt war, unter vielen Menschen zu sein.
    Alejandro wurde im Wesen seinem Vater sehr ähnlich und war äußerlich seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Er besaß Nicos Forschergeist und konnte mathematischen Gedankengängen folgen, noch ehe er sämtliche Konsonanten des Alphabets kannte. Weil er ein so hübscher kleiner Junge war, sprachen uns Leute auf der Straße an, um ihm Nettigkeiten zu sagen. An einem 2. April, das Datum weiß ich noch genau, waren er und ich allein im Haus, und er kam erschrocken zu mir in die Küche gerannt, wo ich eine Suppe kochte, klammerte sich an meine Beine und sagte: »Da ist jemand auf der Treppe.« Wir gingen zusammen nachsehen, liefen durchs ganze Haus, fanden aber niemanden, und als wir wieder nach oben in die Küche gehen wollten, blieb er bleich und stocksteif am Fuß der Treppe stehen.
    »Da!«
    »Was ist da, Alejandro?« Ich sah nur die Terrakottastufen.
    »Sie hat lange Haare.« Und er verbarg sein Gesicht in meinem Rock.
    »Das muß deine Tante Paula sein. Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben, sie ist nur gekommen, um Hallo zu sagen.«
    »Aber sie ist tot!«
    »Das ist ihr Geist, Alejandro.«
    »Aber du hast doch gesagt, der ist dort im Wald! Wie ist er hergekommen?«
    »Im Taxi.«
    Unterdessen hattest du dich wohl in Luft aufgelöst, denn der Knirps war bereit, an meiner Hand die Treppe hinaufzugehen. Wenn mich nicht alles täuscht, wurde die Legende von deinem Geist durch meine Mutter aufgebracht, die uns mehrmals im Jahr besuchte und stets einige Wochen blieb,weil die Reise von Santiago nach San Francisco an Marco Polos Fahrten erinnert und nicht mal eben so unternommen werden kann. Meine Mutter behauptete, nachts

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