Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
hatte oder meine Schuhe drückten. Ich erinnere mich nicht, wo ich überall war, es spielt keine Rolle. Ich weiß, ich habe Europa bereist, Australien, Neuseeland, Lateinamerika, Teile Afrikas und Asiens und die ganzen Vereinigten Staaten mit Ausnahme von North Dakota. Im Flugzeug schrieb ich Briefe an meine Mutter, in denen ich ihr von meinen Erlebnissen erzählte, aber wenn ich diese Seiten ein Jahrzehnt später lese, ist es, als handelten sie von jemand anderem.
    Das einzige, was mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist, ist eine Szene in New York, im tiefsten Winter, die mich lange schmerzlich verfolgte und sich erst nach einer Reise nach Indien schließlich austreiben ließ. Willie hatte sich mir übers Wochenende angeschlossen, und wir kamen von einem Besuch bei Jason und seinen Freunden von der Universität zurück, jungen Intellektuellen in Lederjacken. In diesen Monaten, die Jason von Sally getrennt verbracht hatte, war von Heirat nicht mehr die Rede gewesen; wir hielten dieVerlobung für gelöst, denn Sally hatte das verschiedentlich angedeutet, und bei einem von Ernestos Besuchen in Kalifornien hatten wir von einer kurzen, aber heftigen Affäre mit ihm erfahren und daraus geschlossen, Sally sei frei von jeder Bindung. Aber Jason behauptete erneut, sie würden heiraten, sobald er seinen Abschluß hatte. Von ihrem Techtelmechtel mit Ernesto sollte er erst Jahre später erfahren. Da war die Lawine bereits ins Rollen gekommen, die seinen Glauben an unsere Familie, die er so sehr idealisiert hatte, für immer begraben würde.
    Beim Abschied von Jason waren Willie und ich gerührt gewesen, hatten daran denken müssen, wie sehr dieser Junge sich verändert hatte. Als ich nach Kalifornien kam, hatte er die Nächte mit Lesen verbracht oder war mit seinen Freunden unterwegs gewesen, war nachmittags um vier aus dem Bett gekrochen, um dann, in eine schäbige Wolldecke gehüllt, auf der Terrasse zu rauchen, Bier zu trinken und zu telefonieren, bis ich ihm Beine machte, damit er aufs College ging. Jetzt war er drauf und dran, Schriftsteller zu werden, wie wir es immer prophezeit hatten, denn er besitzt wirklich Talent. Ich erinnerte mich mit Willie dieser alten Zeiten, während wir über die Fifth Avenue schlenderten, ringsum Lärm und Gewühl, Verkehr, Asphalt und Rauhreif, da fiel unser Blick vor dem Schaufenster eines Ladens, in dem eine Sammlung alter Schmuckstücke aus dem Rußland der Zarenzeit ausgestellt war, auf eine zitternde Frau, die am Boden lag. Es war eine Schwarze, sie war schmutzig, in Lumpen gehüllt, mit einer schwarzen Mülltüte zugedeckt, und sie weinte. Die Leute hasteten blicklos an ihr vorbei. Ihr Weinen war so trostlos, daß die Welt für mich gefror, wie eine Fotografie; selbst der Winterwind schien für einen Augenblick stillzustehen, so unauslotbar war das Leid dieser Frau. Ich ging neben ihr in die Hocke, gab ihr alles, was ich an Bargeld hatte, obwohl ich mir sicher war, daß jeden Moment ein Zuhälter auftauchen und es ihr abnehmen würde,und versuchte, mit ihr zu reden, aber sie sprach kein Englisch oder war bereits jenseits aller Worte. Wer war sie? Wie war sie in diesen Zustand des Verlassenseins geraten? Vielleicht stammte sie von einer karibischen Insel oder von den Küste Afrikas und war von der Brandung wahllos auf die Fifth Avenue gespült worden, fremd wie ein Meteorit, der aus einer anderen Sphäre auf die Erde fällt. Mir blieb das beklemmende Gefühl von Schuld, weil ich ihr nicht helfen konnte oder wollte. Wir gingen weiter, eilig, frierend; einige Blocks entfernt betraten wir ein Theater, und die Frau blieb zurück, verloren in der Nacht. Ich hätte mir damals nicht träumen lassen, daß ich sie nicht würde vergessen können, daß ihr Weinen als unerbittlicher Ruf in mir nachhallen würde, bis das Leben mir zwei Jahre später die Gelegenheit bot, auf ihn zu antworten.
    Wenn sich Willie von der Arbeit loseisen konnte, setzte er sich ins Flugzeug, um sich irgendwo mit mir zu treffen und ein, zwei Nächte mit mir zu verbringen. Seine Kanzlei war ein Klotz am Bein, brachte ihm mehr Ärger als Befriedigung. Die Klientel bestand aus mittellosen Leuten, die bei der Arbeit verunglückt waren. Mit der zunehmenden Zahl meist illegaler Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika hatte auch die Fremdenfeindlichkeit in Kalifornien zugenommen. Willie kassierte einen Anteil an der Entschädigung, die er für seine Klienten aushandelte oder vor Gericht erstritt, aber diese Summen wurden immer

Weitere Kostenlose Bücher