Das Siegel der Tage
eigene Sprache – Spanglisch – finden, um uns zu verstehen. Vergangenheit, Kultur und Gewohnheiten trennten uns voneinander, und auch die Schwierigkeiten mit den Kindern, die sich in einer künstlich zusammengeschusterten Familie nicht vermeiden lassen, aber mit Händen und Füßen erkämpften wir den unverzichtbaren Raum für unsere Liebe. Sicher, um bei ihm in den Vereinigten Staaten bleiben zu können, ließ ich fast alles, was ich hatte, hinter mir, und paßte mich dem Schlachtengewirr seines Lebens an, aber auch er hat viele Zugeständnisse gemacht und vieles geändert, damit wir zusammenbleiben konnten. Von Beginn an hat er meine Familie in sein Herz geschlossen und meine Arbeit akzeptiert, hat mich begleitet, wo es möglich war, mich unterstützt und mich beschützt, auch zuweilen vor mir selbst; er kritisiert mich nicht, macht sich sanft über meine Ticks lustig, läßt sich nicht von mir unterbuttern, mißt sich nicht mit mir und hat mich, selbst wenn wir uns gestritten haben, immer mit Edelmut behandelt. Willie verteidigt seinen Bereich und macht weiter kein Gewese darum; er sagt, er habe einen kleinen Kreidekreis gezogen und darin sei er vor mir und der Sippe sicher: bis hierher und nicht weiter. Unter seinem ruppigen Äußeren verbirgt sich eine große Sanftheit; er ist gefühlvoll wie ein großer Hund. Ohne ihn könnte ich nicht so viel und so ruhig schreiben, wie ich es tue, denn er kümmert sich um all das, was mich schreckt, seien es meine Verträge, sei es unser gesellschaftliches Leben oder selbst das Instandhalten der mir rätselhaften Küchengeräte. Auch wenn es mich noch immer wundert, ihn an meiner Seite zu sehen, habe ich mich doch an seine raumfüllende Gegenwart gewöhnt und könnte nicht mehr ohne ihn leben. Willie füllt das Haus, er erfüllt mein Leben.
Der leere Brunnen
Im Frühjahr 1995 benutzte ein wahnsinniger Rassist einen mit zwei Tonnen Sprengstoff beladenen Lastwagen, um in Oklahoma City ein Regierungsgebäude in die Luft zu sprengen. Fünfhundert Menschen wurden verletzt, einhundertachtundsechzig getötet, darunter viele Kinder. Eine Frau lag eingeklemmt unter einem Zementblock, und um sie zu bergen, mußte ihr ohne Betäubung ein Bein amputiert werden. Celia war drei Tage lang vollkommen außer sich, sie sagte, die Unglückliche wäre besser gestorben, hatte sie bei der Tragödie doch nicht nur ihr Bein, sondern auch ihre Mutter und ihre beiden kleinen Kinder verloren. Celias Reaktion glich der, die sie auch gegenüber anderen schlimmen Nachrichten zeigte: Sie entbehrte jeden Schutzes gegen die äußere Welt. Trotz unserer langen Vertrautheit gelang es mir nicht, zu erraten, was in ihr vorging. Ich bildete mir ein, sie besser zu kennen, als sie sich selbst kannte, aber in der Seele meiner Schwiegertochter gab es vieles, was mir entging, wie ich einige Monate später feststellen sollte.
Willie und ich beschlossen, daß es Zeit war, Urlaub zu machen. Wir fühlten uns ausgepumpt, und mir gelang es nicht, die Trauer abzuschütteln, obwohl dein Tod über zwei Jahre und Jennifers Verschwinden schon fast ein Jahr zurücklagen. Noch wußte ich nicht, daß die Traurigkeit nie mehr ganz fortgeht, daß sie einem zur zweiten Haut wird; ohne sie wäre ich heute nicht die, die ich bin, und würde mich im Spiegel nicht wiedererkennen. Seit ich Paula abgeschlossen hatte, hatte ich nicht wieder geschrieben. Schon seit Jahren spukten in meinem Kopf Gedanken an einen Roman über den Goldrausch in Kalifornien um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, aber für eine Aufgabe, die einen so langen Atem erforderte, fehlte mir derSchwung. Nur wenige Menschen ahnten, wie es um mich bestellt war, denn nach außen hin blieb ich geschäftig wie immer, obwohl auf meiner Seele ein Schluchzen lag. Mir wurde das Alleinsein lieb, ich wollte niemanden sehen als meine Familie, andere Leute waren mir lästig, die Zahl der Freunde reduzierte sich auf drei oder vier. Ich fühlte mich ausgebrannt. Auch auf Lesereisen wollte ich nicht mehr gehen und erklären, was in meinen Büchern schon gesagt war. Ich brauchte Stille, aber sie zu finden wurde immer schwerer. Von weit her kamen Journalisten und besetzten mit ihren Kameras und Scheinwerfern unser Haus. Einmal stand eine Gruppe japanischer Touristen davor wie vor einer Sehenswürdigkeit, als eben ein Reporterteam aus Europa zu Gast war, das mich in einer riesigen Voliere neben einem majestätischen weißen Kakadu fotografieren wollte. Das Federvieh wirkte nicht
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