Das Siegel der Tage
freundlich gesinnt und besaß Krallen wie ein Kondor. Der mitgereiste Tiertrainer hätte den Vogel unter Kontrolle halten sollen, der seine Geschäfte aber gleichwohl auf den Möbeln erledigte und mir in der Voliere fast ein Auge ausgehackt hätte. Doch ich konnte nicht klagen: Meine Leser waren mir zugetan und meine Bücher überall gegenwärtig. Die Traurigkeit wurde in den schlaflosen Nächten offenbar, in der dunklen Kleidung, in dem Wunsch, irgendwo allein in einer Höhle zu hausen, im Fehlen jeglicher Inspiration. Umsonst rief ich die Musen. Selbst die armseligste von ihnen hatte mich verlassen. Für jemanden, der lebt, um zu schreiben, und von dem lebt, was er schreibt, ist die innere Dürre erschreckend. Einmal vertrödelte ich den Nachmittag mit ungezählten Tassen Tee in der Book Passage, als Ann Lamott vorbeikam, eine amerikanische Autorin, die wegen ihrer Geschichten voller Humor, Tiefgang und Glauben an das Göttliche und das Menschliche sehr beliebt ist. Ich erzählte ihr, ich sei blockiert, worauf sie die »Schreibblockade des Schriftstellers« für Humbug erklärte, manchmalsei der Brunnen eben einfach leer, und man müsse ihn wieder auffüllen.
Bei der Vorstellung, daß mein Brunnen voll Geschichten und der Wunsch, sie zu erzählen, versiegen könnten, befiel mich Panik, schließlich mußte ich Geld verdienen und meiner Familie unter die Arme greifen. Nico arbeitete als Computeringenieur in einer anderen Stadt, wofür er jeden Tag über zwei Stunden auf dem Highway unterwegs war, und Celia schuftete in meinem Büro für drei, aber ihre Ausgaben wuchsen ihnen trotzdem über den Kopf; wir leben in einer der teuersten Gegenden der Vereinigten Staaten. Da besann ich mich meiner Lehrjahre als Journalistin: Wenn man mir ein Thema und Zeit zum Recherchieren gibt, kann ich über fast alles schreiben, außer über Politik und Sport. Ich nahm mir eine »Reportage« vor, die thematisch möglichst weit entfernt von meinem letzten Buch sein sollte, rein gar nichts mit Schmerz und Verlust zu tun haben würde, sondern nur mit den beglückenden Sünden des Lebens: mit Völlerei und Wollust. Da es nicht um »schöne Literatur« ging, würden die Launen der Muse weiter keine Rolle spielen, ich mußte bloß über Essen, Erotik und die Verbindung zwischen beidem recherchieren: über Aphrodisiaka. Dieses Vorhaben beruhigte mich soweit, daß ich Willies und Tabras Vorschlag, nach Indien zu reisen, annahm, obwohl nichts mich in die Ferne zog und schon gar nicht nach Indien, was das weiteste ist, wohin man von uns aus reisen kann, ehe man sich von der anderen Seite des Planeten unserem Zuhause wieder nähert. Ich glaubte mich außerstande, die unermeßliche Armut dieses Landes auszuhalten, staubtrockene Dörfer, spindeldürre Kinder, kleine Mädchen, die mit neun Jahren verheiratet, zu Sklavenarbeit oder Prostitution gezwungen werden, aber Willie und Tabra versprachen mir, daß Indien viel mehr sei als das, und wollten mich notfalls mit Gewalt mitnehmen. Außerdem hatte ich dir, Paula, versprochen, eines Tages nach Indien zu fahren, als du, überschäumendvon Eindrücken, von einer Reise dorthin zurückkehrtest und schwärmtest, es könne keine reichere Quelle der Inspiration für einen Schriftsteller geben. Obwohl er wieder bei Tabra aufgekreuzt war, begleitete Alfredo López Gefiederte Echse uns nicht, weil er mit zwei Komantschen, seinen Stammesbrüdern, einen Monat in der Wildnis zu verbringen gedachte. Tabra mußte ein paar heilige, für die Rituale unerläßliche Trommeln für ihn kaufen.
Willie legte sich eine khakifarbene Entdeckerweste mit siebenunddreißig Taschen zu, einen Rucksack, einen Rancherhut und ein neues Objektiv für seine Kamera, in Größe und Gewicht einer kleinen Kanone ähnlich, während Tabra und ich dieselben Zigeunerinnenröcke wie eh und je einpackten, ideale Reisekleidung, weil man weder Knitterfalten noch Flecken darauf sieht. Wir machten uns auf den Weg, der eine halbe Ewigkeit später mit unserer Landung in Neu Delhi endete, wo wir in die klebrige Schwüle der Stadt und in ihr Gewirr aus Stimmen, Verkehr und plärrenden Radios eintauchten. Eine Million Hände griffen nach uns, aber Willies Kopf ragte zum Glück wie ein Periskop aus der menschlichen Brandung und erspähte in der Ferne das Schild mit seinem Namen in der Hand eines hochgewachsenen Mannes mit despotischem Schnauzbart und Turban. Das war Sirinder, der Fahrer, den wir über ein Reisebüro in San Francisco engagiert hatten. Mit
Weitere Kostenlose Bücher