Das Siegel der Tage
dem Kopf über den Weg. Die Frauen waren anmutig, schmal, trugen fadenscheinige Saris in leuchtenden Farben – magenta, zitronengelb, smaragdgrün – und bogen sich unter dem Gewicht der Steine wie Röhricht im Wind. Sie wurden als »Helferinnen« angesehen und verdienten halb so viel wie die Männer. In der Mittagspause hockten die Männer sich mit ihrem Blechgeschirr im Kreis auf die Erde, und die Frauen warteten etwas entfernt. Später aßen sie dann die Reste.
Wir waren viele Stunden über Land gefahren und müde, die Sonne sank bereits, über den Himmel spannten sich flammende Pinselstriche. In der Ferne ragte inmitten trockener Äcker ein einsamer Baum, vielleicht eine Akazie, und darunter ahnten wir Gestalten, großen Vögeln gleich, die sich beim Näherkommen als eine Gruppe von Frauen und Kindern entpuppten. Was taten sie hier? Es gab weder ein Dorf noch eine Wasserstelle in der Nähe. Willie bat Sirinder anzuhalten, weil er sich die Beine vertreten wollte. Tabra und ich gingen auf die Frauen zu, die Anstalten machten, zurückzuweichen, aber dann siegte die Neugier über die Scheu, und bald standen wir alle zusammen, umringt von nackten Kindern, unter der Akazie. Die Frauen trugen staubige, zerschlissene Saris. Sie waren jung, hatten langes, dunkles Haar, trockene Haut, tief in den Höhlen sitzende, mit Kajal geschminkte Augen. Wie in vielen anderen Weltgegenden gibt es auch in Indien nicht die Vorstellung von einer persönlichen Sphäre, die wir im Westen so vehement verteidigen. Weil uns die gemeinsame Sprache fehlte, begrüßten die Frauen uns mit Gesten, und dann erforschten sie uns mit kühnen Finger, betasteten unsere Kleider,unser Gesicht, Tabras Haar, von einem dunklen Rotton, den sie vielleicht nie zuvor gesehen hatten, unseren Silberschmuck … Wir streiften unsere Armreife ab, um sie ihnen anzubieten; kichernd wie kleine Mädchen, probierten sie sie aus. Es gab genug für alle, zwei oder drei für jede.
Eine der Frauen, sie wird etwa in deinem Alter gewesen sein, nahm mein Gesicht in beide Hände und küßte mich sanft auf die Stirn. Ich spürte ihre aufgesprungenen Lippen, ihren warmen Atem. Die Geste war so unerwartet, so innig, daß mir die Tränen kamen, die ersten seit langer Zeit. Die anderen Frauen streichelten mich wortlos, verwirrt von meiner Reaktion.
Weiter hinten gab Sirinder uns durch ein Hupen zu verstehen, daß es Zeit zum Aufbruch war. Wir verabschiedeten uns von den Frauen und gingen auf das Auto zu, aber eine von ihnen kam hinter uns her. Sie berührte mich am Rücken, ich drehte mich um, und sie hielt mir ein Paket hin. Ich glaubte, sie wolle mir etwas im Austausch für die Armreife schenken, und versuchte ihr durch Zeichen verständlich zu machen, daß das nicht nötig sei, aber sie drängte mich, das Paket zu nehmen. Es war sehr leicht, sah nur nach einem Bündel Lumpen aus, doch als ich die auseinanderschlug, fand ich darin ein neugeborenes Kind, winzig und dunkel. Es hatte die Augen geschlossen und roch wie kein anderes Kind, das ich je in den Armen gehalten hatte, ein herber Geruch nach Asche, Staub und Exkrementen. Ich küßte es auf die Wange, murmelte einen Segenswunsch und wollte es der Mutter zurückgeben, aber anstatt es zu nehmen, drehte die sich um und rannte zurück zu den anderen, und ich stand da, wiegte das Kind in den Armen und begriff nicht, was das bedeuten sollte. Im nächsten Moment war Sirinder bei mir und schrie, ich solle das loslassen, ich könne es nicht mitnehmen, es sei schmutzig, und dann riß er mir das Kind aus dem Arm und stapfte auf die Frauen zu, die ängstlich vor dem zornigen Mann zurückwichen. Deshalbbeugte er sich hinab und legte das Neugeborene unter dem Baum in den Staub.
Willie war jetzt ebenfalls bei mir, und trug mich fast zum Wagen, gefolgt von Tabra. Sirinder ließ den Motor an, und wir fuhren davon, während ich mein Gesicht an der Brust meines Mannes verbarg.
»Wieso wollte diese Frau uns ihr Kind geben?« fragte Willie leise.
»Es war ein Mädchen. Kein Mensch will ein Mädchen«, erklärte Sirinder.
Es gibt Geschichten, die die Kraft haben zu heilen. Was an jenem Abend unter der Akazie geschah, löste den Knoten, an dem ich zu ersticken drohte, zerriß das Gespinst aus Selbstmitleid und zwang mich, in die Welt zurückzukehren und den Schmerz über meinen Verlust in Handlung zu verwandeln. Retten konnte ich dieses Mädchen nicht und nicht seine verzweifelte Mutter, die »Helferinnen« nicht, die den Berg Stein für Stein
Weitere Kostenlose Bücher