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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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seinem Stock bahnte er sich einen Weg zu uns, wählte ein paar Träger für unser Gepäck aus und bugsierte uns zu seinem alten Auto.
    Wir verbrachten etliche Tage in Neu Delhi, Willie sterbenskrank mit einer Darminfektion und Tabra und ich damit, durch die Stadt zu schlendern und allerlei Flitterkram zu erwerben. »Ich glaube, deinem Mann geht es ziemlich schlecht«, meinte Tabra am zweiten Tag, aber ich wollte mit ihr in ein Handwerkerviertel, in dem sie Steine für ihre Werkstatt schneiden ließ. Am dritten Tag wies sie mich darauf hin, mein Mann sei bereits zu schwach zum Reden, dawir jedoch noch nicht in der Straße der Schneider gewesen waren, wo ich einen Sari zu kaufen gedachte, unternahm ich zunächst nichts. Ich war der Meinung, wir sollten Willie etwas Zeit lassen; Krankheiten gibt es zweierlei, die einen gehen von allein weg, die anderen sind tödlich. Am Abend deutete Tabra an, daß uns die Reise vermiest wäre, falls Willie starb. Angesichts der Gefahr, ihn an den Ufern des Ganges dem Feuer überantworten zu müssen, rief ich bei der Hotelrezeption an, und umgehend wurde uns ein kleiner Doktor mit geölten Haaren geschickt, der in einem speckigen, backsteinfarbenen Anzug steckte und beim Anblick meines leichenhaften Gatten keinerlei Unruhe erkennen ließ. Seiner prall gefüllten Arzttasche entnahm er eine Spritze mit Glaskolben, wie mein Großvater sie 1945 benutzt hat, und schickte sich an, dem Patienten mit einer Nadel, die auf einem Wattebausch ruhte und allem Anschein nach nicht jünger als die Spritze war, eine milchige Flüssigkeit zu injizieren. Tabra wollte dazwischengehen, aber ich versicherte ihr, es lohne nicht, wegen einer möglichen Hepatitis einen Streit anzufangen, wenn die Zukunft des Patienten sowieso in den Sternen stand. Dem Doktor gelang das Wunder, Willie binnen zwanzig Stunden wieder auf die Beine zu bringen, und so konnten wir unsere Reise fortsetzen.
    Indien war eine der Erfahrungen, die einem fürs Leben bleiben, viel gäbe es zu erzählen, aber diese Seiten sollen nicht zu einer Reisebeschreibung ausarten; es genügt, wenn ich sage, daß Indien mir half, den Brunnen aufzufüllen und meine Leidenschaft für das Schreiben neu weckte. Nur zwei entscheidende Erlebnisse möchte ich hier schildern. Durch das erste kam ich auf eine Idee, wie ich dein Andenken würde in Ehren halten können, und das zweite veränderte unsere Familie für immer.

Wer will ein Mädchen?
    Sirinder, unser Fahrer, war hinreichend abgebrüht und tollkühn, um den Autos, Bussen, Eseln, Fahrrädern und mehr als einer dürren Kuh im Stadtverkehr von Delhi auszuweichen. Niemand hatte es eilig – das Leben ist lang –, außer den Mopeds, die mit fünf Leuten beladen wie Torpedos kreuz und quer durch die Straße schossen. Sirinder erwies sich als Mann der wenigen Worte, und Tabra und ich lernten, ihm keine Fragen zu stellen, weil er nur Willie Antwort gab. Die Wege über Land waren schmal und kurvenreich, aber er fuhr, was die alte Kiste hergab. Begegneten sich zwei Fahrzeuge, sahen die Fahrer einander in die Augen und entschieden im Bruchteil einer Sekunde, wer das Alphamännchen war, worauf der Unterlegene den Weg freigab. Die Unfälle am Wegesrand bestanden immer aus zwei etwa gleich große Fahrzeugen, die frontal zusammengeprallt waren: Es war nicht beizeiten der Alphafahrer ermittelt worden. Sicherheitsgurte hatten wir keine, wegen dieser Sache mit dem Karma, schließlich stirbt niemand vor der Zeit. Und das war auch der Grund, weshalb wir die Scheinwerfer nicht benutzten. Sirinders Gespür sagte ihm, wann womöglich ein Fahrzeug in Gegenrichtung nahte; dann schaltete er die Lichter an und blendete es.
    Außerhalb der Stadt war die Landschaft erst trocken und golden, dann staubig und rot. Die Dörfer wurden seltener, und endlos erstreckten sich die Ebenen, aber es gab doch immer etwas zu sehen. Willie war mit seinem Kamerakoffer unterwegs, inklusive Stativ und Kanonenrohr, alles ziemlich umständlich aufzubauen. Angeblich erinnert sich ein guter Fotograf nur an das Bild, das er nicht gemacht hat. Willie könnte sich an Tausende davon erinnern, etwa an das Foto vom gelbgestreiften und als Seiltänzer ausstaffiertenElefanten, der mutterseelenallein durch diese Einöde wankte. Eine Gruppe von Arbeitern, die einen Berg von einer Seite des Weges auf die andere schleppte, konnte er hingegen festhalten. Männer, nur spärlich mit einem Lendenschurz bekleidet, luden die Steine in Körbe, und Frauen trugen sie auf

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